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Ich gestehe, ich bin befangen.

Für mich ist der Gedanke eines vereinten Europa die großartigste Vision, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist. Die EU lässt aus dieser Vision Wirklichkeit werden: Wir profitieren von Freihandel, grenzenloser Mobilität, gesamteuropäischen Bildungsprogrammen und -standards wie Erasmus und Pisa und sozialer Stabilität durch europaweite Investitionen. Die EU ist sogar die strategische Antwort auf die Herausforderungen durch China und die USA und ermöglicht es uns, mit diesen Ländern auf Augenhöhe zu agieren. Aus meiner Sicht ist der Brexit also eine Katastrophe!

Zurück zum Geschäftlichen.

Kurzfristig wird sich der Austritt nachteilig auf unser Geschäft auswirken. Großbritannien ist ein wichtiger Markt in Europa und zahlreiche europäische Marketingunternehmen haben ihren Sitz in London. Großbritannien steht nun vor einer mindestens zweijährigen Phase voller Unsicherheit. Wenn geschäftlicher Entwicklung etwas abträglich ist, ist es Unsicherheit, da sie den Umfang der Investitionen und des Konsums einschränkt. Da sich die Kommunikationsbranche auch prozyklisch entwickelt, werden die Ausgaben im Anzeigengeschäft infolge des Brexit voraussichtlich zurückgehen. Die Kunden werden sich auf kurze Sicht vorsichtiger verhalten.

Mittelfristig sind die Folgen schwieriger einzuschätzen.

Zu beachten sein wird selbstverständlich das Ergebnis der Austrittsverhandlungen. Ich bezweifle, dass Großbritannien und die EU den Brexit in so kurzer Zeit aushandeln können. Ich gehe vielmehr davon aus, dass es wesentlich länger als die derzeit angesetzten zwei Jahre dauern wird, bis sich beide Seiten geeinigt haben. Und unabhängig vom Ergebnis der Verhandlungen: Weder die EU noch Großbritannien werden am Ende besser dastehen als heute.

Man muss jedoch einräumen, dass Großbritannien die EU im Grunde immer nur als eine Art Freihandelszone betrachtet hat. Der Brexit zwingt die EU tatsächlich, ihre Rolle und Prioritäten neu festzulegen. Dies bietet ihr die Möglichkeit, sich zu einer Staatengemeinschaft zu entwickeln, die den Wünschen und Erwartungen der Bürger Europas besser gerecht werden kann.

Vielleicht wird sich sogar eine stärkere und bei der Bevölkerung beliebtere Europäische Union entwickeln. Dies wäre für uns alle und insbesondere für unser Geschäft wünschenswert.

Nehmen wir diese Chance wahr!

Wer eine emotional verunsicherte Öffentlichkeit fragt, ob sie eine übersichtliche Insellösung der großen, vielstimmigen Gemeinschaft mit permanentem Kompromissbedarf vorzieht, darf sich nicht über das Ergebnis wundern. Dass sogar die nüchternen Briten für die eigene politische und ökonomische Verzwergung stimmen, nur um Unmut über „die da auf dem Kontinent“ auszudrücken, war so nicht sicher prognostizierbar. Aber man kann sich nun vorstellen, wozu andere nationale Öffentlichkeiten in der Lage wären.

Am Anfang dieser vor allem für die Briten gemeingefährlichen Entscheidung stand vor allem: politische Schwäche. Ein Premierminister, der seine Rolle auf Zeit damit zu retten versuchte, dass er „dem Volk“ eine große Schicksalsfrage mit einer Reichweite von Jahrzehnten vor die plebiszitären Füße legte. Das Brexit-Votum ist das Ergebnis einer großen Illusion nach dem Muster: Lasst die Leute Dampf ablassen bei einem lästigen Dauerärgernis, dann werden sie die wahre Macht nicht ernsthaft antasten.

Das Ergebnis zeigt: Die Schwäche eines repräsentativ gewählten Spitzenpolitikers bedroht weit mehr als seine Zukunft. Allensbach hat gerade analysiert, wie sehr das Verständnis der Deutschen für repräsentative gewählte Politiker geschrumpft ist. Während man früher Abgeordneten jenseits aller politischen Sympathie mehrheitlich besondere Fähigkeiten attestierte, wünschen sich immer mehr Wähler nur noch Politiker, die nach aktuellen Mehrheitsstimmungen entscheiden. Das Bewusstsein, Politiker mit einem eigenen Kopf gemäß ihrer politisch-ethischen Grundlinie im Interesse der Allgemeinheit entscheiden zu lassen, ist auch in Deutschland erodiert.

Der europaweite Populismustrend lebt nicht allein vom Thema Migration. Es ist nur die Bühne für verschwindendes Verständnis für repräsentative Demokratie mit selbst denkenden, respektablen, wertegebundenen Entscheidern in den Parlamenten. Ein Treiber der verschwindenden Achtung vor Politikern mag sicher die Medienwelt sein, die Politik messbar distanz- und respektloser begleitet als vor drei oder vier Jahrzehnten. Aber wie viel zerstörerischer wirken Politiker, die sich selbst nicht mehr die Rolle des repräsentativen Entscheiders zubilligen.

Wer Fragen zu Flughäfen oder Stromtrassen nicht am Allgemeininteresse bewertet und entscheidet, sondern sich in Demoskopie und Volksbefragungen flüchtet, rettet vielleicht für ein paar Monate sein Amt. Aber er sägt am Ast unserer Demokratie, politische Macht auf Zeit in die Hände denkender Wesen zu legen. Demokratie braucht außer Wählern auch Köpfe mit klaren Politikangeboten.

Die Konsequenz aus dem Scheitern des David Cameron kann es nicht sein, nach seinem Vorbild politische Führung zu scheuen. Wetterwendische Machtjongleure erarbeiten keinen Respekt für parlamentarische Demokratiearbeit, sondern vergrößern den Raum für die Krawallpopulisten. Die Schäden politischer Führungsverweigerung wären auch auf dem Kontinent enorm.