Wie kann ich das Metaverse für meine Marke nutzen, wie wird dieses neue digitale Universum die Customer Experience verändern und wofür genau steht der Begriff „Metaverse“ überhaupt? Strategieexpertin Eva Lihotzky verschafft einen Überblick und formuliert vier Handlungsempfehlungen für Brands.

Neal Stephenson hat in seinem Science-Fiction-Klassiker „Snow Crash“ bereits 1992 den Begriff „Metaverse“ geprägt. In dem visionären Roman geht es um einen Pizzaboten, der nachts als Hacker in einer immersiven, virtuellen Welt unterwegs ist. 30 Jahre später ist die Idee einer dreidimensionalen, immersiven Online-Umgebung, in der Menschen in Echtzeit miteinander interagieren und Dinge schaffen, kaufen und verkaufen können, nicht mehr nur Stoff für Sci-Fi-Bücher: Das Potenzial für soziale und kommerzielle Interaktionen in einer virtualisierten Umgebung ist enorm, und Investments in Technologien und neu entstehende virtuelle Räume haben über die letzten Jahre signifikant zugenommen. Denn schon heute gehen Technolog:innen, Unternehmen und Investor:innen davon aus, dass das Metaverse zu einem Schauplatz der Zukunft und damit zu einer großen Umsatzquelle wird. Eine Studie des Finanzdienstleisters Citigroup bestätigt diese Einschätzung: Das mögliche Business-Potenzial durch virtuelle Welten wird darin auf bis zu 13 Billionen US-Dollar bis zum Jahr 2030 geschätzt.

Das Metaverse – mehr als nur ein singulärer Raum

Doch worum genau handelt es sich beim Metaverse? Eine erste Google-Recherche führt neben 173.000.000 Suchtreffern auch zu unterschiedlichen Definitionen. Die meisten davon haben jedoch eine Gemeinsamkeit: Sie verstehen unter der Bezeichnung „Metaverse“ mehr als nur eine einzelne Technologie oder einen Endzustand. Vielmehr berufen sie sich auf die Konvergenz mehrerer separater Technologien, die in den kommenden Jahren alle nach und nach Marktreife erreichen werden – und damit den Weg in die Web3-Ära ebnen. Neben dem fortschreitenden Einsatz der Blockchain und interaktiven Technologien, wie Virtual Reality (VR), Augmented Reality (AR) und Mixed Reality (MR), stehen Internet-of-Things(IoT)-Anwendungen (beispielsweise der Einsatz von Sensoren und Netzwerk-Kommunikationslösungen), Computing Technology (wie 5G- und 6G-Netzwerke) sowie Cloud Computing, Artificial Intelligence (AI) und Gaming-Technologien im Fokus.  

Virtuelle Räume führen zu neuen Begegnungsmöglichkeiten

Das geschickte Zusammenspiel dieser Technologien kann das Erlebnis einer immersiven, dreidimensionalen Umgebung schaffen, in der Konsument:innen miteinander, mit dem jeweiligen Unternehmen und der jeweiligen Umgebung so interagieren, als befänden sie sich in einem gemeinsamen Raum. Dieser Raum kann zukünftig mehrere Eigenschaften aufweisen: Erstens ist davon auszugehen, dass dort sowohl die physische als auch die digital-virtuelle Welt in den Erfahrungsraum der Nutzer:innen einbezogen und ineinander übergehen wird. Zweitens werden dort Reaktionen und soziale Interaktionen ermöglicht, sodass ein kontinuierlicher Austausch zwischen den jeweiligen Konsument:innen, Unternehmen, Influencer:innen und deren Avataren stattfindet. Drittens werden darin Kreativität, Produktdefinition und -weiterentwicklung grenzenlos und im Idealzustand zwischen einzelnen Räumen interoperabel sein, sodass komplett neue Begegnungsmöglichkeiten, Kommunikationswege und Business-Modelle entstehen. Viertens werden virtuelle Räume zu jeder Zeit verfügbar und von Nutzer:innen definiert sowie gestaltbar sein.

Das nächste Level der Customer Experience

Dadurch wird Echtzeitkommunikation und Personalisierung zu einem noch wichtigeren Differenzierungsmerkmal für Unternehmen, die mit ihren Konsument:innen im Metaverse in den Austausch treten. Deshalb muss das Konzept der Customer Experience neu gedacht, erweitert und die Kommunikations- und Interaktionsgeschwindigkeit von Brands auf das nächste Level gehoben werden. Denn neben bestehenden Touch Points, die Unternehmen weiterhin zur Begegnung mit ihren Konsument:innen dienen, kommen nun diejenigen im Metaverse bzw. in virtuellen Räumen hinzu. So werden eine Vielzahl neuer Interaktionspunkte entstehen, die Unternehmen in ihre Marken- und Kommunikationsstrategie einbetten sollten.

The Hitchhiker’s Guide to Metaverse Experiences

Für Brands empfiehlt es sich daher, unter anderem folgende vier Handlungsempfehlungen umzusetzen:

  1. Metaverse-Potenziale identifizieren und eine langfristige Strategie implementieren
    Unternehmen sollten die für sie Business-relevanten Metaverse-Potenziale ableiten und eine Metaverse-Strategie in bestehende Kommunikations- und Marketingstrategien einbinden. Diese sollten flexibel genug sein, um schnell auf den anhaltenden technologischen Fortschritt und damit sich verändernde Kundenanforderungen und -verhaltensweisen reagieren zu können.
  2. Relevante Technologien flexibel und sukzessive einbinden
    Virtuelle Räume werden durch die bereits genannten Technologien ermöglicht. Allerdings braucht es nicht alle Technologien für jeden Anwendungsfall gleichzeitig. Vielmehr werden Unternehmen unterschiedliche Technologie-Kombinationen an unterschiedlichen Touch Points anwenden. Umso wichtiger wird es also, die jeweils relevanten Technologien schnell einsatzfähig bereitzuhalten und entlang der Customer Journey an das Kundenverhalten anpassen zu können. Eine diversifizierte und flexibel auf die jeweilige Anforderung anwendbare Technologiearchitektur wird damit in Zukunft für den Unternehmenserfolg im Metaverse entscheidend sein. 
  3. Konsumentenverhalten und -emotionen in virtuellen Räumen intensivieren
    Auch im Metaverse wird eine überzeugende Customer Experience ein Unterscheidungsmerkmal bleiben. Deshalb sollten Unternehmen sich darauf konzentrieren, auch in virtuellen Räumen konsistente und fesselnde Erlebnisse zu schaffen, die die Vorteile der Immersivität und Interaktivität einzusetzen wissen. Durch geschickte Kombination der relevanten Technologien, wie beispielsweise AR, Sensoren sowie On- und Offlinekombinationen, können Brands ihren Konsument:innen durch neue Blickwinkel gegenübertreten, eine stärkere Identifikation mit Produkten durch sprichwörtlich anfassbares Storytelling ermöglichen und so das Kaufverhalten und die Kundenloyalität positiv beeinflussen.
  4. Vertrauen, Authentizität und Verantwortung in den Vordergrund stellen
    Vertrauen und Sicherheit werden noch mehr in den Vordergrund rücken, wenn es darum geht, die Customer Experience in diesen neuen virtuellen Räumen zu definieren. Denn nur so kann Akzeptanz für die neu entstehenden Erfahrungen geschaffen werden, die Konsument:innen mit Unternehmen in den jeweiligen immersiven Interaktionen machen werden. Die bereits bestehenden Überlegungen – und Bedenken – in Bezug auf Datenschutz, Sicherheit, IP-Schutz oder Accessibility werden umso mehr an Bedeutung gewinnen, je mehr die Grenze zwischen physischen und virtuellen Welten der Konsument:innen verschwimmt. Unternehmen stehen demzufolge in der Verantwortung, damit verantwortungsbewusst umzugehen und diese inklusiv zu gestalten.

Schöne neue Welten

Der technologische Fortschritt und die daraus entstehenden immersiven Räume verändern die Basis und Funktionsweise physischer und virtueller Interaktionen. Allerdings ist noch lange nicht final definiert, wie sich das Metaverse weiterentwickeln und mit welchen schrittweisen Entwicklungen und Funktionalitäten zu rechnen sein wird. Zwar sind einige Technologien und Bausteine bereits vorhanden, jedoch wird die vollständige Realisierung von immersiven, reaktiven und kontinuierlich expansiven virtuellen Welten noch einige Jahre dauern. Denn viele der erforderlichen Technologien werden noch Zeit benötigen und vom Fortschritt anderer Technologien abhängig bleiben, bevor ihre Fähigkeiten und Potenziale in der Breite eingesetzt werden können. Und selbst dann werden sie sich nach und nach noch weiterentwickeln und neue Maßstäbe setzen.

Jetzt zu beschreiben, wie ein Leben im Metaverse zukünftig aussehen und welche Auswirkungen das auf Unternehmen haben wird, ist deshalb in etwa so, als hätte man im Jahr 1990 versucht zu beschreiben, was einmal aus dem Internet werden wird. Aber vielleicht sollte man dazu einfach Neal Stephenson befragen – er hatte ja bereits vor 30 Jahren eine Vorahnung, in welche Richtung es gehen könnte.

Dieser Artikel erschien zuerst im TWELVE, dem Magazin der Serviceplan Group für Marken, Medien und Kommunikation. Weitere spannende Artikel, Essays und Interviews von und mit prominenten Gastautor:innen und renommierten Expert:innen lesen Sie in der neunten Ausgabe unter dem Leitthema „Speed! The Winning Factor in the Digital Age“: https://sp-url.com/twelve23-lp.

Unsere Welt wird gefühlt jeden Tag ein Stück komplexer. Wir müssen immer schneller agieren, um Anschluss zu halten und unsere Marktposition zu sichern. Wie geht ein öffentlich-rechtliches Medienhaus mit den veränderten Rahmenbedingungen um? Und wie wird hier Speed zum Erfolgsfaktor? Darüber sprach Barbara Evans mit ZDF-Programmplanungschef Dr. Florian Kumb.

BARBARA EVANS: Herr Dr. Kumb, mögen Sie Geschwindigkeit?

FLORIAN KUMB: Absolut! Wenn unter hohem zeitlichem Druck etwas gelingt, ist der Motivationsschub noch größer. Geschwindigkeit ist zwar kein Selbstzweck, aber unerlässlich für den Erfolg in der dynamischen Medienwelt. Beim Einsatz neuer Technologien zum Beispiel und bei den Entwicklungszeiten von Programminnovationen ist Geschwindigkeit zu einem zentralen Erfolgsfaktor geworden. Ein gutes Beispiel dafür ist die fiktionale Serie „Himmel und Erde“, die in fünf Geschichten den Krieg in der Ukraine thematisiert und damit die politische Lage der vergangenen Monate aufgegriffen hat. 

In welchen Bereichen können Sie umgekehrt Geschwindigkeit am wenigsten gebrauchen?

FK: An vielen Stellen müssen Geschwindigkeit und Sorgfalt zusammenkommen, gerade im journalistischen Bereich. Ändern wir unser Programm aufgrund der aktuellen Nachrichtenlage, müssen wir über gesicherte Informationen verfügen. Hintergründe und Einordnung liefern zu können, ist in einer unübersichtlichen Lage eine große Herausforderung. Und im Investigativbereich geht Gründlichkeit definitiv vor Schnelligkeit. Abseits des Programms gilt das an Stellen, wo Präzision im Vordergrund steht, etwa bei Compliance-Themen oder bei der Budgetsteuerung.

Ist die Speed-Thematik für Sie eher ein kurzfristiges Phänomen oder ein langfristiges?

FK: Wir sehen uns einer sich wandelnden Erwartungshaltung der Nutzerinnen und Nutzer gegenüber, die sich schneller ändert als in früheren Zeiten. Und auf die wir schneller mit Programmangeboten reagieren müssen. Die stetige Veränderung ist das neue Normal. Die Vorstellung, dass sich alles wieder in überschaubare und stabile Zeiten zurückentwickelt, ist für mich abwegig. 

In welchen Bereichen spüren Sie beim ZDF den größten „Need for Speed“?

FK: Im aktuellen journalistischen Bereich war der „Need for Speed“ schon immer sehr groß, das sind wir gewohnt, und die Kolleginnen und Kollegen agieren sehr professionell in Breaking-News-Situationen. Aber auch in anderen Programmgenres steigt der Druck auf Entwicklungszeiten. Die Welt verändert sich so schnell, dass Ideen in kürzerer Zeit umgesetzt werden müssen. Besonders stark hat die Notwendigkeit für Geschwindigkeit aber bei der strategischen Arbeit und im Bereich der nonlinearen Distribution zugenommen. Um unser Ziel „Ein ZDF für alle“ zu erreichen, müssen wir hier besonders anpassungsfähig sein, hochdynamisch agieren und reagieren.

Was genau tut das ZDF, um sich in dieser Hinsicht für die Zukunft zu rüsten?

FK: Es klingt merkwürdig, aber zunächst müssen wir die Komplexität erhöhen. Denn auf komplexe Herausforderungen gibt es keine einfachen Antworten. Ein Beispiel: Wir haben die Bereiche Kommunikation, Digitale Medien und Programmplanung enger zusammengebracht, die in der Logik der Hierarchie in verschiedenen Direktionen verortet sind. Wir haben gemeinsame Prozesse und Aufgabenfelder definiert, wie 360-Grad-Planung, Marke/Design oder KI in der Distribution, die wir nun gemeinsam verantworten. Das erhöht den Abstimmungsbedarf, legt Rollen- und Ressourcenkonflikte offen. Aber wir teilen die Erkenntnis, dass kein Bereich allein die Probleme für sich lösen kann – für mich die Grundlage für eine erfolgreiche Zusammenarbeit in der Zukunft.  

Wird sich auch etwas bei der internen Datenzusammenarbeit ändern? 

FK: Ich plädiere für eine vollständige Demokratisierung von Daten und gleichzeitig einen klaren Rahmen, der in diesem Datendschungel Orientierung bietet. Wir sind dabei, sämtliche Daten intern für alle verfügbar zu machen. Denn auch von Untersuchungen zu Formaten, die Kollegen und Kolleginnen nicht selbst verantworten, kann gelernt werden. Das ist ein echter Mind Change. Seit Kurzem gibt es zudem den ZDF KOMPASS – ein ganzheitliches Steuerungstool für alle relevanten Performance-Indikatoren zu Nutzung, Qualität, Wirkung und Akzeptanz unseres öffentlich-rechtlichen Angebots. Der KOMPASS legt Prioritäten fest und hilft, in der unübersichtlicheren Medienwelt den Überblick zu behalten.

Wie sieht es mit dem Einsatz von KI aus? Und wie lässt sich dieser mit dem öffentlich-rechtlichen Auftrag Ihres Hauses vereinbaren?

FK: KI hat für uns eine zentrale Bedeutung, beispielsweise in der Planungsarbeit. Wir nutzen KI sowohl für das Empfehlungssystem der ZDFmediathek als auch für die lineare Planung, beispielsweise für ZDFinfo. Hier macht die Maschine die Vorschläge, was Nutzer und Nutzerinnen als nächstes schauen könnten oder welche Programme hintereinander programmiert werden sollten. Wichtig ist, dass der dahinterliegende Algorithmus einen öffentlich-rechtlichen Charakter aufweist. Uns geht es nicht darum, Menschen mit den immer gleichen Inhalten an uns zu binden und deren Nutzung zu kommerzialisieren –, wir haben andere Ziele, beispielsweise Menschen mit Neuem oder Unerwartetem zu konfrontieren. Die Daten helfen uns herauszufinden, wie das gelingen kann.

Gibt es schon erste Erfahrungen?

FK: Die ersten Erfahrungen sind sehr gut. Die Vielfalt der Empfehlungen in der ZDFmediathek hat deutlich zugenommen – es werden heute mehr unterschiedliche Programme empfohlen als bei händischer Kuratierung. Das ist auch naheliegend, denn kein Planer kann alle Titel gleichermaßen im Blick haben. Im Linearen sind die Erfolge so augenscheinlich, dass wir gerade an der Ausweitung auf andere Sender und Sendestrecken arbeiten. ZDFinfo ist auch dank KI-Unterstützung zum erfolgreichsten linearen Informationssender geworden – mit Abstand, auch bei jüngeren Zielgruppen.

Welche Auswirkungen ergeben sich auf die Programmgestaltung und die Markenkommunikation des Senders?

FK: Die strategische Arbeit in Bezug auf das inhaltliche Profil, die Markenkommunikation und die Entwicklungspotenziale der Ausspielwege ändert sich nicht. Das ist und bleibt menschliche journalistische Arbeit und Kreativleistung. Die KI stellt sicher, dass die Kolleginnen und Kollegen dafür genug Zeit haben, denn bei der operativen Planungsarbeit und in der Distribution werden sie deutlich entlastet.

Ergeben sich für das ZDF als öffentlich-rechtlichem Sender hier besondere Chancen oder Herausforderungen?

FK: An vielen Stellen müssen wir im Digitalen neue öffentlich-rechtliche Wege finden. Denken Sie an die Erwartungen an das Nutzungserlebnis. Dafür müssen wir die Bedürfnisse der Menschen genau kennen. Dies stellt uns aber vor Herausforderungen, wenn wir gleichzeitig die höchsten Datenschutzstandards erfüllen wollen. Unser größtes Privileg ist es jedoch, Ideen und Projekte abseits kurzfristiger wirtschaftlicher Rentabilität umsetzen zu können. Gleichzeitig ist aktuell der wirtschaftliche Druck besonders hoch: Bei gleichbleibenden Erträgen und den derzeitigen Kostensteigerungen sind Investitionsentscheidungen besonders schwierig. Vor allem, wenn sie sich erst langfristig auszahlen.

Wenn es darum geht, neue Ideen zu entwickeln: Schauen Sie sich in erster Linie innerhalb des deutschsprachigen Raumes um oder lassen Sie sich von Konzepten und Ideen aus anderen Ländern inspirieren?

FK: Sowohl als auch, wobei ich den in der Branche weit verbreiteten Fokus auf die USA nicht nachvollziehen kann. Kleinere Märkte sind viel dynamischer, vor allem wenn sie ein progressives Verständnis von Technologie verinnerlicht haben. Vor diesem Hintergrund sind die skandinavischen Märkte, die Schweiz oder Israel für mich sehr interessant – wir arbeiten beispielsweise gerade mit einem dänischen Start-up zusammen, das auf gutem Weg ist, eines unserer Datenprobleme in Bezug auf Diversität lösen zu können.

Glauben Sie, dass wir hier im deutschsprachigen Raum schon auf einem guten Weg sind, um immer schneller zu werden im Entscheiden und Handeln?

FK: Den Deutschen sagt man gerne nach, leidenschaftliche Bedenkenträger zu sein. Gleichzeitig ist für uns das Idealbild des Tüftlers, der viel probiert und dann zu überzeugenden Lösungen kommt, positiv besetzt. Ich glaube, der Generationenwechsel in den Unternehmen ist eine große Chance, schneller zu werden. Die ältere Generation muss die klassischen „Ingenieurstugenden“ an die Jüngeren weitergeben, ihnen aber erlauben, das Tempo vorzugeben. „Fail fast“ ist keine neue Strategie, das gab es schon zu Gründerzeiten. Wir müssen sie wieder mehr zulassen.

Dank der GfK ist bekannt, dass Unternehmen, die schneller handeln, erfolgreicher sind. Aus einem hauseigenen Forschungsprojekt wissen wir, dass in rund zwei Dritteln der Unternehmen in Sachen Nutzung von Realtime-Daten, Vernetzung zwischen verschiedenen Unternehmensbereichen, Individualisierung von Kommunikation oder Angeboten etc. längst noch nicht so viel passiert, wie eigentlich nötig wäre. Welchen Rat würden Sie einem Entscheider bzw. einer Entscheiderin zum Thema „an Speed zulegen“ mit auf den Weg geben?

FK: Es ist notwendig und es ist mühsam, gerade zu Beginn. Dabei geht es weniger um radikale Grundsatzentscheidungen als um eine klare Vision und viele kleinteilige, langwierige Prozessanpassungen. Daran kommt man nicht vorbei. Aber wenn das Management erst einmal eine Grunddynamik entfacht hat, Mitarbeitende und Führungskräfte merken, dass kein Weg daran vorbeiführt, erhöht sich die Geschwindigkeit. Ich empfehle, zunächst auf wenige zentrale Kern- und Unterstützungsprozesse des Unternehmens zu blicken und sie einer End-to-End-Betrachtung zu unterziehen – auch wenn das komplex ist. Dafür muss ein kleines internes Projektteam aus guten Mitarbeitenden aufgestellt und autorisiert werden. Externe Berater und Beraterinnen sollten möglichst vermieden werden.

Vielen Dank für das Gespräch!

Dieses Interview erschien zuerst im TWELVE, dem Magazin der Serviceplan Group für Marken, Medien und Kommunikation. Weitere spannende Artikel, Essays und Interviews von und mit prominenten Gastautor:innen und renommierten Expert:innen lesen Sie in der neunten Ausgabe unter dem Leitthema „Speed! The Winning Factor in the Digital Age“: https://sp-url.com/twelve23-lp

„Insbesondere für junge Generationen gilt: Vorn ist das neue Oben“, sagt Dr. Jens Thiemer, Senior Vice President Kunde und Marke BMW bei der BMW Group. Doch wie schnell müssen Marken heute tatsächlich sein, um zu den Besten zu gehören – und wann sollte man den Fuß auch mal vom Gas nehmen? Wolf Ingomar Faecks, Managing Partner der Serviceplan Group, hat nachgefragt.

WOLF INGOMAR FAECKS: Ist das Prinzip „Höher, schneller, weiter“ noch zeitgemäß?

JENS THIEMER: Wir beobachten verstärkt, dass sich das Statusdenken in der Gesellschaft verändert. Insbesondere für junge Generationen gilt: Vorne ist das neue Oben. Das heißt, dass wir einen Trend von den Social Climbern hin zu den Social Drivern erleben, die der Welt etwas zurückgeben möchten und sich als Teil einer Gemeinschaft mit einem gemeinsamen Sinn betrachten. Für BMW geht es daher nicht mehr nur noch darum, der Beste in der Welt zu sein, sondern eben auch der Beste für die Welt. Wir bewegen Menschen, berühren Herzen und beflügeln den Verstand. Das ist unser Führungsanspruch.

Darf mich die „Fear of missing out“, kurz FOMO, im Digitalisierungskontext unvorsichtig machen? 

JT: Grundsätzlich sollte man beim Thema Digitalisierung neugierig und aufmerksam, aber nicht unbedingt vorsichtig oder zurückhaltend sein. So sehr uns die Digitalisierung auch anspornt, so viele neue chancenreiche Aufgaben und eben teilweise Risiken ergeben sich daraus. Gerade während Corona haben Hackerangriffe, Datendiebstahl und Datenmissbrauch einen neuen Höchststand erreicht. Für uns bei BMW gilt ein Höchstmaß an Achtsamkeit und Vertraulichkeit mit allen Daten. Und was FOMO angeht: Im Digitalisierungskontext erleben wir beinahe jeden Tag neue Hypes und Trends. Man sollte sich immer fragen, warum man vermeintlich unter FOMO leidet. Was genau ist es, das man verpassen könnte? Hat man es bereits vollständig verstanden? Welche Rolle spielt es für andere Entscheidungen? Und dann genau abwägen, ob man hier mitgehen sollte. 

Wie entscheiden Sie, ob etwas ein Hype oder ein ernst zu nehmender Trend ist, dem man folgen muss?

JT: Zunächst einmal analysieren wir sehr gründlich, woher eine Bewegung branchenübergreifend kommt, in welchem Umfeld sie entsteht und wer zuerst darauf aufspringt. Viele sogenannte Hypes scheiden danach bereits aus, weil sie nicht zur Unternehmensausrichtung und -strategie passen. Wenn ein Hype Potenziale für eine Marke bietet, sollte man schauen, wie schnell er sich in Richtung eines stabileren Trends entwickelt und wie schnell andere Player darauf aufspringen. Man sollte auch keine Angst haben, dass der Trend bricht oder floppt. Das kann passieren. Clubhouse war in Deutschland vor zwei Jahren ein Beispiel, wo wir relativ früh aktiv waren, weil die Plattform großes Potenzial hatte, zu einem Trend zu werden. Viele namhafte Persönlichkeiten waren dort früh vertreten. Wie wir heute sehen, hielt der Trend nicht so lange an wie erwartet oder braucht einfach noch Zeit. Da muss man dann reagieren, um nicht unnötig Ressourcen einzusetzen.

Geschwindigkeit ist heute ein entscheidender Erfolgsfaktor. Hat Speed auch Relevanz für das Vertriebsmodell, Innovationen und Customer Centricity?

JT: Geschwindigkeit hat für jeden unserer Prozesse Relevanz, denn sie zwingt uns dazu, unsere Prozesse auf das Wesentliche zu reduzieren und unnötige Redundanzen zu vermeiden. Ansonsten ist man einfach nicht schnell genug. Man könnte vielleicht die Bedeutung von Geschwindigkeit in diesen Prozessen gewichten. Bei Innovationen ist Geschwindigkeit grundsätzlich der entscheidende Faktor, um vorne zu bleiben. Wer hier schnell ist, gibt die Pace einer ganzen Industrie vor. Beim Vertriebsmodell wird Geschwindigkeit aus Kundensicht auch immer wichtiger: Transaktionen sind überall gefordert und sollten simpel, kurz und reibungsfrei erfolgen können. Customer Centricity dagegen ist zunächst einmal eine Haltung, die substanziell gelebt und mit Daten unterfüttert werden muss, um Prozesse optimal auf sie auszulegen. Das hat mit Schnelligkeit nur indirekt etwas zu tun. Allerdings sollte man den notwendigen Mindset Shift in einem Unternehmen hin zu echter Kundenorientierung nicht unterschätzen. Das dauert und muss dauerhaft und vorbildhaft gelebt werden.

Welche Gefahren und Vorteile hat Speed im Unternehmen – und auf der Straße?

JT: Mit unseren Fahrzeugen genießt man ab und zu ja auch höhere Geschwindigkeiten auf der Straße. Natürlich situationsangepasst und unterstützt durch alle vorstellbaren und technisch möglichen Fahrerassistenzsysteme. Aber der Fahrspaß eines BMW hängt nicht an der gefahrenen Geschwindigkeit. Freude am Fahren erleben alle Passagiere auch bei gemäßigter Fahrt. Im Unternehmen bietet Geschwindigkeit den Vorteil, Wettbewerbsvorteile schneller als andere zu erreichen, birgt aber auch das Risiko, ungenau zu werden und Fehler zu machen. Davor darf man dann keine Angst haben.

Ist Speed für BMW ein Unternehmensziel?

JT: Geschwindigkeit ist kein Selbstzweck. Sie schwingt natürlich bei allem mit, was wir tun. Wir beschleunigen unsere Prozesse, vermeiden Redundanzen und setzen klare Prioritäten. Das betrifft insbesondere unseren Entwicklungsprozess, unsere Innovationsgeschwindigkeit im gesamten Unternehmen und interne Entscheidungsprozesse. Somit zahlen unsere Ziele indirekt auf jeden Fall auf Geschwindigkeit ein.

Steht Speed im Zielkonflikt mit anderen Unternehmenszielen?

JT: Die Dinge gehen Hand in Hand. Manche Dinge müssen sehr schnell erledigt werden, anderes braucht auch Zeit, um zu wachsen. Das steht nicht im Konflikt, sondern wird je nach Ziel unterschiedlich bewertet.

Was sind für Sie die drei größten Speed-Killer?

JT: Lange Diskussions- und Entscheidungswege. Grundsätzliche Risikoaversion. Fehlender mutiger und reflektierter Blick über den eigenen Tellerrand.

Wie kann BMW die Geschwindigkeit gegenüber automobilen Disrupteuren, wie beispielsweise Tesla und Nio, die ein D2C-Vertriebsmodell anbieten, erhöhen?

JT: In der Automobilindustrie gibt es inzwischen viele junge, schnelle und risikobereite Unternehmen mit kaum gewachsenen Strukturen. Das ermöglicht Flexibilität und Freiraum zum Experimentieren und zum grundsätzlichen Einschlagen gänzlich neuer Wege. BMW ist ein Konzern, der über mehr als 100 Jahre Erfahrung hat. Bei uns brauchen Entscheidungen manchmal länger, aber wir haben in der Vergangenheit gezeigt, dass das oft die richtigen Entscheidungen waren, und wir konsequent unseren Weg weitergehen, langfristig orientiert, kundenorientiert und technologisch fokussiert – tech magic und human centric. Der Wettbewerb regt uns aber immer dazu an, schneller zu werden, konsequenter und noch mehr Wirkung zu erzielen.

Ist D2C der einzige Weg vorwärts? 

JT: Direct Sales hat für uns neben einer nochmaligen Verbesserung des Kundenerlebnisses natürlich noch viele weitere Vorteile, insbesondere den direkten Kundenzugang und die Möglichkeit, an jedem Touch Point im Vertrieb digital wie physisch Transaktionen zu ermöglichen, Omnichannel genannt. Hinzu kommt ein nicht verhandelbarer fairer Festpreis für die Produkte, damit die Kunden nicht mehr nach Rabatten und Angeboten suchen müssen; das ist heute für ein Premiumprodukt einfach nicht mehr zeitgemäß. Damit erreichen wir auch unser ambitioniertes Ziel 2025 einen 25-prozentigen Online-Sales-Anteil zu haben. Wir machen das Hand in Hand mit unserem starken Händlernetzwerk, das von Beginn an in den Prozess eingebunden wird. Daher ist das unser Weg vorwärts. Aber auch ein klassisches Wholesale-Modell kann natürlich digital optimiert werden. Wichtig sind immer bessere Prozesse und bessere Ergebnisse.

BMW setzt mit „Wir machen nicht Nachhaltigkeit bei BMW, sondern wir machen BMW nachhaltig“ ein starkes Leitmotiv zum Thema Sustainability. Benötigt es für diesen Ansatz noch mehr Speed als bisher?

JT: In erster Linie braucht dieser Ansatz Transparenz und Vertrauen. Nachhaltigkeit ist ein Thema, das viel Substanz benötigt und noch mehr Konsequenz. Zudem braucht es viel Kommunikation und Erklärung nach innen und außen. Oberflächlichkeit muss unbedingt vermieden werden, um nicht unglaubwürdig zu werden. Oft liegt Unglaubwürdigkeit daran, dass Unternehmen zu schnell zu viel kommunizieren und dann nicht liefern. Daher geht es viel mehr um Ehrlichkeit als um Schnelligkeit. Wo steht ein Unternehmen beim Thema Nachhaltigkeit? Was können wir bereits leisten und was eben auch nicht? Das zu jeder Zeit technologisch Machbare in der Serie ist hier das jeweilige Optimum. Und ab und an einen Nordstern in die Zukunft des Anzustrebenden aufzeigen. Unser BMW i Vision Circular zeigt hier, wie umfassend und konsequent wir nachhaltige und vor allem zirkulare Mobilität denken. Er steht für unseren Anspruch, Vorreiter bei der Entwicklung einer Kreislaufwirtschaft zu sein. Wir haben bewusst gesagt: „Das ist unsere Vision für das Jahr 2040, und wir begeben uns auf eine aktive Reise dorthin.“ Dass man auf dem Weg natürlich trotzdem relativ schnell an nachhaltigen Lösungen arbeiten muss, liegt auf der Hand. Auch wenn die Schritte dahin noch zu klein scheinen. Einer muss hier in Führung gehen.

Helfen Speedboats als Pilotprojekte, bevor man den Regelprozess umstellt?

JT: Ein Speedboat eignet sich hervorragend, um Veränderungen erst mal im Kleinen zu erproben und die Auswirkungen abzuschätzen. Das spart Zeit und Nerven. Es ist viel leichter, einzelne Parameter sehr viel schneller anzupassen und die Schieberegler so einzustellen, dass es am Ende für den gesamten Prozess passend ist. Allerdings darf es nicht beim Piloten bleiben. Ich bin ein großer Unterstützer von Skalierung und schneller Überführung in das große Ganze.

Ist die Geschwindigkeit in unterschiedlichen Verticals überall gleich schnell? 

JT: Das ist nicht der Fall. Und ich finde es auch normal. Wer schneller ist, soll vorauslaufen. Eine gleichzeitige End-to-End-Verantwortung über alle vertikalen Streams ermöglicht dann nach und nach einen Gleichklang. Dadurch schaffen wir gemeinsame Haltepunkte und stellen sicher, dass jeder Stream zur richtigen Zeit das Richtige abliefert. Das ist die Grundlage jeder echten Kundenorientierung, jeder weiß ungefragt, was er zu welchem Zeitpunkt zu tun hat.

Welche Rolle spielt Geschwindigkeit beim neuen, für BMW maßgeschneiderten Performance-Marketing-Agenturmodell?

JT: Ein Hauptgrund für die Implementierung des neuen Performance-Marketing-Agenturmodells war es definitiv, die Geschwindigkeit zu erhöhen, mit der wir unsere Kundinnen und Kunden relevant ansprechen und ihnen Angebote unterbreiten. Indem wir die Anzahl an Agenturen deutlich reduziert haben und eine maßgeschneiderte Lösung für unsere Umfänge in ganz Europa geschaffen haben, bieten sich hier bessere Möglichkeiten. Das Konstrukt der Marcom Engine ist auf inhaltlich ganzheitliches Performance-Marketing ausgerichtet, das datenbasiert und kundenzentriert echten Business Impact generiert und das beste Kundenerlebnis in unserer Kategorie schafft. Die zunehmende Automatisierung und Digitalisierung unserer Arbeitsprozesse werden wesentlich zur Erhöhung der Geschwindigkeit beitragen. Natürlich ist die Umstellung mit sehr viel Aufwand verbunden und kostet zu Beginn eher Tempo, bis die Transition hin zum neuen Set-up geschafft ist. Auch der Transformationsprozess, sprich die veränderten Arbeitsprozesse erfordern anfangs mehr Managementkapazität und Zeit. Aber wir sehen hier heute schon enorme Synergieeffekte und Effizienzen und gleichzeitig einen hohen Innovationsgrad, der unsere Kundenansprache und unser Interaktionsverhalten einfach schneller und besser macht.

Welches Risikomanagement wird hier betrieben?

JT: Diese Umstellung erfordert Beidhändigkeit. Während wir an der Transformation arbeiten, fokussieren wir uns gleichzeitig auf unsere aktuellen Kernprozesse und stellen sicher, dass diese weiterhin weitgehend reibungslos funktionieren und wir auf dem gewohnten Qualitätsniveau liefern. Ein ordentlicher Planungsprozess und ein durchdachter Transitionsplan stellen sicher, dass die Umstellung vorwiegend reibungsfrei funktioniert und ein ordentliches Handover gewährleistet ist. Das ist gleichzeitig das beste Risikomanagement. 

Verlangsamen Transformationsprozesse den Vertriebsprozess?

JT: Es hilft sicherlich, Transformationsprozesse und organisatorische Anpassungen zeitgleich in Gang zu setzen. Oft passiert das in einem Großkonzern aber zeitlich versetzt. Auf allen verschiedenen Ebenen des Vertriebs müssen Menschen überzeugt, Prozesse verändert und die Aufbauorganisation optimiert werden. Der zeitliche Versatz sorgt manchmal für Störungen im System, sodass sich das neue Unbekannte erst einmal Platz verschaffen muss. Hier helfen Pilotprojekte oder die Unterstützung einzelner Märkte. Oftmals ist es der Impuls von außen über neuen Wettbewerb oder andere Branchen, der notwendig ist, um interne Veränderungsprozesse anzustoßen und uns hilft, uns weiterzuentwickeln und zu optimieren. Das muss man dann auch mal aushalten. Voraussetzung dafür ist natürlich eine gut koordinierte Transformation und die richtige Kommunikation im Unternehmen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Dieses Interview erschien zuerst im TWELVE, dem Magazin der Serviceplan Group für Marken, Medien und Kommunikation. Weitere spannende Artikel, Essays und Interviews von und mit prominenten Gastautor:innen und renommierten Expert:innen lesen Sie in der neunten Ausgabe unter dem Leitthema „Speed! The Winning Factor in the Digital Age“: https://sp-url.com/twelve23-lp

In unserer von Highspeed geprägten Businesswelt funktioniert Leadership nur noch, wenn Werte vorgelebt werden. Dies gilt für Führungskräfte und Unternehmen gleichermaßen. Präsenz, Pflichten, Pausen – und was Purpose damit zu tun hat: Darüber diskutierten Stefanie Kuhnhen, Serviceplan-Chefstrategin und Gründerin des Start-ups „kokoro“, dessen App Unternehmen hilft, die Team-Performance zu verbessern, und Buchautor, Podcaster und Senior Advisor bei Serviceplan Frank Behrendt. Für den roten Faden im Gespräch sorgte Kommunikationsexperte Klaus Weise.

KLAUS WEISE: Die Digitalisierung erhöht das Tempo für uns Arbeitende. Im Gegenzug, so die Theorie, sind wir produktiver und effizienter. In der Praxis allerdings – und das gilt für Start-ups ebenso wie für Großkonzerne – ist von Effizienz oft wenig zu spüren. Was läuft hier falsch?

FRANK BEHRENDT: Ich bin immer wieder entsetzt, wie viel kostbare Zeit für ineffiziente Meetings und Abstimmungen aufgewendet wird. Ich schätze, dass etwa die Hälfte der stattfindenden Calls, Meetings und Abstimmungen wenig zielfahrend ist. Das gilt für die aktuell sehr belieben Video-Calls ebenso wie für klassische Präsenzmeetings. Stellt euch mal vor, durch ein besseres Projektmanagement, strukturierte Meetings und eine Leading-to-Results-Kultur würde man diese Zeit einsparen! Man könnte die verschwendete Zeit reinvestieren in Inspiration, Zukunftsprojekte oder Freizeit. Das wäre eine Win-win-Situation für alle.

Stefanie, ich höre und lese viel von m den und überarbeireten Mitarbeitenden, die den Druck und das digitalisierungs bedingte Tempo kaum noch aushalten Wie passt eine App, die Team-Perfor-mance steigern soll, in diese Zeit?

STEFANIE KUHNHEN: Ganz hervorragend! (lacht) Die App ist ein Tool für Mitarbeitende, sich unabhängig und in Echtzeit selbst zu helfen. Sie ermöglicht es Teams, den gemeinsamen Erfolg aktiv zu gestalten, um eigenverantwortlicher und unabhängiger von der Führung zu werden. Denn zum Erfolg gehört auch der sinnvolle Ausgleich von Anstrengung und Ausruhen, von Fremd- und Selbstbestimmung.

Teams, die sich stärker selbst organisieren und dadurch noch besser werden – das klingt beinahe zu schön, um wahr zu sein. Wie funktioniert das konkret?

SK: Die Teams nehmen mit „kokoro“ wichtige Frühindikatoren wahr und lernen, zu steuern und auch rechtzeitig gegenzusteuern. Sie lernen, gemeinsam im Flow zu bleiben sowie Zugehörigkeit und psychologische Sicherheit als die wichtigsten drei Einflussfaktoren zu managen. Viel mehr braucht es nicht, um gemeinsam hocheffektiv und erfolgreich zu arbeiten, das wissen wir heute. Mit diesem Fokus auf die wesentlichen weichen Teamfaktoren kann Übermüdung und Überarbeitung aktiv gegengesteuert werden. Grundvoraussetzung bleibt ein vertrauensvolles Menschenbild: Wir legen die Kontrolle ab und vertrauen auf die hohe Eigenmotivation unserer Kolleginnen, dann können sich Sprint und Ruhe endlich sinnvoll ablösen.

Was ist wichtiger bei dem Ziel, eine bessere Team-Performance zu erreichen – mehr Sprints oder mehr Ruhe?

SK: Wie bei einem Spitzensportler oder einer Spitzensportlerin gehört zu nachhaltigem Teamerfolg beides: die Phasen, in denen man Höchstleistung abruft, aber eben auch die gezielten Ruhepausen dazwischen, um sich zu erholen und aufzutanken, als Vorbereitung für den nächsten Sprint.

Frank, du liebst Homeoffice und schreibst in deinem Buch „Von Kindern lernen“, dass das Zusammensein im Alltag mit deiner jüngsten Tochter Holly dir mehr bringt als jedes Business-Seminar. Ist mehr Homeoffice ein Weg zu mehr Entspannung und Zufriedenheit?

FB: Aus meiner Sicht liegt der Schlüssel in der Flexibilisierung und Individualisierung von Möglichkeiten, in denen sich Mitarbeitende in einem Unternehmen bewegen können. Ich liebe das Homeoffice, weil es mir die beste Möglichkeit gibt, mein Familienleben parallel optimal zu managen und meine ebenfalls berufstätige Frau maximal zu entlasten, sodass wir beide auch unsere Jobs vernünftig machen können. Andere sind gerne im Büro, brauchen viel Kontakt mit anderen. Als ich keine Familie hatte, ging mir das auch so. Heute höre ich meiner Jüngsten begeistert zu, sie hält mich auf Ballhöhe mit allem, was in der schnell drehenden digitalen Welt angesagt ist. Das nützt mir auch für meine Arbeit in der Agentur. Eigentlich müsste Holly als Trendscout eine Vergütung bekommen.

Der Name des von dir, Stefanie, mitgegründeten Unternehmens „kokoro“ stammt aus dem Japanischen und steht für die Einheit von Kopf, Herz und Körper. Müssen sich Arbeitgeber:innen künftig viel mehr und ganzheitlicher um das Wohlbefinden ihrer Angestellten kümmern, wenn sie die Überlastung ihrer Teams vermeiden wollen?

SK: Absolut, ich kann das nur empfehlen. Die Zeiten, in denen wir unser privates Ich jeden Morgen an der Schwelle zum Büro abgeben, sind endgültig vorbei. Wir brauchen die volle Kreativität der Menschen, und dazu müssen sie auch ihr ganzes Ich einbringen dürfen. Deshalb sind wir als Arbeitgeberinnen gut beraten, gerade Dual Personalities einzustellen, die viele Interessen und Fähigkeiten mit in die Arbeit einbringen können. Dann braucht es allerdings auch den Raum dafür: Wenn eine Mitarbeiterin als Hobby ihre Foto-Skills weiter ausbauen möchte, hilft das auch mir als Arbeitgeberin – und deshalb ist es sinnvoll, ihr dafür Zeit einzuräumen, auch vor 20 Uhr abends.

Gibt es eine Formel, wie Arbeitgeber:in-nen Kreativität und Inspiration stärker fördern können?

SK: Berufe, in denen Neues entwickelt werden muss – und da wird es viele geben in den folgenden Jahrzehnten, weil wir nahezu alle Systeme neu erfinden müssen -, brauchen Muße fürs Denken. Vielleicht auch einen gesunden Körper, in dem bekanntlich eher ein gesunder Geist wohnt. Hier ist es nicht damit getan, als Unternehmen einen Yogakurs auf der Dachterrasse oder ein paar Massagen anzubieten. Das ist ein großes und weit verbreitetes Miss-verständnis. Es geht zukünftig darum, Mitarbeitende als Menschen mit all ihren Facetten zu sehen, zu verstehen und zu respektieren – und nicht als Maschinen. Dazu gehört die Pflicht zur Gesunderhaltung, zur Denkraum-Gebung und zur freieren Alltagsgestaltung. Ich stelle oft fest, dass die disruptivsten Ideen, die wir im Rahmen von Strategieprozessen entwickeln, von Leuten kommen, die gerade in einem ganz anderen Feld eine spannende Erfahrung gemacht haben oder außerhalb der Büros Inspiration getankt haben. Auch für mich selbst kann ich sagen: Meine besten Ideen habe ich beim Laufen oder beim Spaziergang in der Natur – aber so gut wie nie am Schreibtisch. Denn das sind die Momente, in denen neue Querverbindungen entstehen, also Synthese im Kopf stattfinden kann. Und davon brauchen wir zukünftig mehr: nicht Fleißarbeit, sondern Muße zum Fleiß-Denken.

Früher gab es mehr Zeit, um Strategien und Konzepte auszuarbeiten, heute soll alles immer sofort fertig sein. Ich habe das Gefühl, die Leitungsebene ist extrem getrieben und gibt diese Hektik zu oft ungefiltert an ihre Teams weiter. Siehst du einen Ausweg aus diesem Turbo-Hamsterrad?

SK: Ich habe den Eindruck, dass durch die mehr gewordenen Marketingkanäle bei fast gleichem Budget für nichts mehr, schon gar nicht für die Strategie und Konzeption, ausreichend Zeit ist. Weil zunehmend nur noch auf das Taktische, die Delivery, geschielt wird und die wachsende Marketingmaschine bedient werden muss. Ich versuche als Führungskraft, dies immer wieder mit Kunden zu thematisieren und realistisch vor Augen zu halten, was geht – und was eben nicht geht. Und mit meinen Kolleg:innen Struktur und Ruhe in den Prozess zu bringen. Meist gewinnt man auch Zeit, wenn man mit Kunden bewusst in die Co-Creation geht, statt wasserfallartig zusammenzuarbeiten. Es ist niemandem damit gedient, mal eben schnell ein Konzept zusammenzuzimmern oder eine halbgare Strategie auf die Rampe zu schieben. Vor allem haben wir es meistens mit sehr lange existierenden Marken und Unternehmen zu tun, da sollte man nichts an der falschen Stelle überstürzen. Meine Erfahrung ist, dass man Kunden mit einer sauberen Analyse, fundierten Erkenntnissen aus der Marktforschung und einem durchdachten, kollaborativen Strategieprozess, der den Auftraggeber jederzeit transparent mitnimmt, überzeugen kann. Dafür braucht es Zeit. Und die gewinne ich mit einer überzeugenden Haltung und hohen Empathie, um Kunden dafür zu begeistern und damit das bessere Ergebnis zu gewährleisten. Dafür muss man gelungene Kunden- beziehungsweise Partnerbeziehungen aufbauen. Und nicht über Effizienz, sondern auch über Zukunftsfähigkeit reden. Das ist machbar. Aber das rufen sich viele nicht ins Bewusstsein oder denken, das ginge auf Dienstleistungsseite nicht.

Was rätst du Führungskräften, die selbst unter massivem Performance-Druck stehen?

SK: Im Sinne von „kokoro“ das Hams-terrad einfach stoppen. Sich selbst-
bestimmte, unverrückbare Zeitblöcke im Alltag schaffen. Sie zu verteidigen. Und das seinem Team vorzuleben und als Rat mitzugeben.
Diese Phasen der Selbstbestimmung führen zu Freiheit und Flow. Und es ist ganz egal, was ich in diesen Blöcken tue: ob ich konzentriert Deep Work absolviere oder eine Runde am Elbstrand schlendere. Beides nimmt Hektik und Druck raus – vor allem, weil ich es eben selbst entscheiden kann. Auch dafür braucht es wieder die Haltung, diesen Frei- und Möglichkeitsraum zu verteidigen. Was mich zu dem Schluss bringt: Innere Resilienz ist heute unerlässlich. Sie ist das Werkzeug, um aufmerksam und mit sich selbst verbunden der Hektik etwas Wirkungsvolles entgegenzusetzen.

Wenn man dir, Frank, auf den sozialen Netzwerken folgt, hat man den Eindruck, du hast jeden Tag Breaks mit deinem Hund oder sitzt auch mal zwischendurch in der Sonne. Ist das Show oder Teil deines Erfolgsgeheimnisses als stets entspannter und gut gelaunter „Guru der Gelassenheit“?

FB: Wenn es mir um Show ginge, wäre ich Influencer geworden. (lacht) Ich habe im Laufe der Jahre ein Modell für mich gebastelt, das Hochleistung und Entspannung im permanenten Wechsel beinhaltet. Ich habe jeden Tag Deep-Work-Phasen, in denen ich hochkonzentriert zwei Stunden am Stück komplett störungsfrei arbeite. Da telefoniere ich nicht, hänge nicht auf Social Media rum, konzentriere mich nur auf mein To-do. Meistens sind das Slots am Vormittag, wenn meine Kinder in der Schule sind, oder abends, wenn alle anderen Feierabend machen und deshalb kaum noch Mails und Telefonate eintrudeln. Weil ich antizyklisch arbeite, habe ich während des Tages Freiräume, die ich bei einer Nine-to-Five-Taktung nicht hätte. Also gehe ich morgens mit dem Hund in den Park, am Nachmittag zum Friseur oder sitze mit einem Espresso in der Sonne. Meine Arbeit schaffe ich trotzdem immer pünktlich und in den Deep-Work-Slots bin ich so effizient, dass ich meist nur die Hälfte der Zeit benötige wie im normalen Arbeitsalltag. Meine Erfahrung ist auch, dass ich zu Hause viel produktiver bin als im Büro, da werde ich durch die Kolleg:innen viel öfter abgelenkt. Ich gehe lieber mal an Freitagen ins Büro, um mich auszutauschen und Kontakte zu pflegen.

Noch mal zum Thema dieser TWELVE-Ausgabe, „Speed“ als Erfolgsfaktor: Die Notwendigkeit der Beschleunigung trifft auf die Bremse, dass immer mehr Menschen über genau diesen Speed klagen. In dem Buch „Das Ende der unvereinbaren Gegensätze, das du mitgeschrieben hast, Stefanie, heißt es, dass die Zeit der unvereinbaren Gegensätze vorbei ist und wir in Zukunft ganzheitlich denken, leben und arbeiten werden. Müssen wir also lernen, mit der Hochgeschwindigkeit zu leben?

SK: Ja, das müssen wir. Aber sie muss nicht das Böse sein, wenn wir es schaffen, sie zu integrieren. Unsere These im Buch ist, dass die Digitalisierung eine exponentiell zunehmende Verflechtung und damit die Auflösung von klassischen Polarisierungen nach sich zieht. Das ist ein Megatrend, der sämtliche Gesellschaftsbereiche von der Bildung über Business und Politik bis hin zum individuellen Sein betrifft und neue Strukturen, Machtverhältnisse und Systeme erzeugt. Daher müssen wir auch mit einer Zunahme der Geschwindigkeit in Prozessen leben. Ganzheitlich betrachtet bedeutet das zugleich, dass wir nicht machtlos ausgeliefert sind. Wir müssen aber mit höherer Aufmerksamkeit, Selbstverbundenheit und Entscheidungsfreudigkeit aktiv dafür sorgen, dass wir auch mal abschalten und einen bewussten Gegenpol bilden durch die Eigenzeit-Blöcke im Arbeitsalltag. Lasst uns die bewusste Reintegration der Langsamkeit die „Wiederentdeckung der Langsamkeit“ nennen. Dadurch können wir einen Kontrast zum Digitalisierungs-Turbo setzen. Was mir auch wichtig ist: Es geht dabei nicht immer einseitig um Langsamkeit oder Entspannung als Gegenpol. Es geht vielmehr um aktive Sellbstbestimmung in einem Strudel, der einen gefühlt mitreißen will, weil ich heute immer etwas verpasse, wenn ich in einer digitalen Welt offline bin. Das ist definitiv nicht schlimm aber ich muss mich von diesem Gefühl selbst befreien können.

Stichwort Gegenpol und Abschalten: Frank, du hast zu Hause ein Zimmer mit Erinnerungen aus deiner Kindheit, das dich in einen Happiness-Modus bringt. Sollten wir alle öfter mal im Kopf zu-rückreisen in die gute alte Zeit, um die aktuelle besser zu meistern?

FB: Ich kann das nur empfehlen. Mein Psychologen-Freund Bertold Ulsamer spricht von „Glücksankern“ die einem im Rahmen von NLP (neurolinguistischer Programmierung) helfen, in einen positiven Modus zu kommen. Bei mir ist das ein Flashback in meine extrem glückliche Kindheit. In meinem Memory Room habe ich alle Spielzeuge und Erinnerungen zusammengetragen, die für mich als Kind Glück ausgemacht haben. Mein Bonanzarad zum Beispiel. Betrachte ich diese Dinge, bin ich sofort woanders. Wenn ich am Tag im digital geprägten Speed-Modus bin, dann kann ich so eine Stopptaste drücken und mich mental entspannen. Nach einem solchen Happiness Break kann ich dann wieder eine Zeit lang Vollgas geben. Mit dieser Methode spielt übrigens auch das ZDF. Das Format der Samstagabend-Show „Wetten, dass..?“, die in diesem Jahr am 19. November wieder einmalig mit Thomas Gottschalk über die Bildschirme flimmert, ist eigentlich total aus der Zeit gefallen. Aber sie versammelt Millionen am Lagerfeuer der Erinnerungen. Und das schafft inmitten des Trommelfeuers meist schlechter Nachrichten aus aller Welt eine wohlfühlende Wärme und Ruhe.

Vielen Dank für das inspirierende Gespräch!

Dieses Interview erschien zuerst im TWELVE, dem Magazin der Serviceplan Group für Marken, Medien und Kommunikation. Weitere spannende Artikel, Essays und Interviews von und mit prominenten Gastautor:innen und renommierten Expert:innen lesen Sie in der neunten Ausgabe unter dem Leitthema „Speed! The Winning Factor in the Digital Age“: https://sp-url.com/twelve23-lp

Immersive Art ist nicht nur eines der Trend-Themen der gegenwärtigen Kunstszene. Virtuelle, künstlerisch partizipative Umgebungen sind für Marken auch eine Möglichkeit, einzigartige Experiences für Kunden zu schaffen.

Die Kongregation der Barmherzigen Schwestern vom heiligen Vinzenz von Paul ist hundertprozentige Gesellschafterin eines der erfolgreichsten deutschen Mineralbrunnen. Mit den Gewinnen der Adelholzener Alpenquellen GmbH finanziert der Orden soziale und karitative Projekte. Wie lassen sich christliche Werte und wirtschaftliches Denken vereinbaren? Wie prägen diese Werte die Unternehmenskultur? Ein Gespräch mit Generaloberin Schwester Rosa Maria Dick und Adelholzener Geschäftsführer Stefan Hoechter.

FLORIAN HALLER: Ein wichtiges, wenn nicht das wichtigste Thema unserer Zeit ist Nachhaltigkeit. Bei Adelholzener gehört Nachhaltigkeit sozusagen zur DNA. Herr Hoechter, was ist aus Ihrer Sicht nachhaltige Markenführung?

STEFAN HOECHTER: Wir haben ge­rade den ersten Adelholzener Alpenquellen fertig­gestellt, und es ist uns dabei aufgefallen, wie stark sich das Verständnis von Nach­haltigkeit verändert hat. Früher ging es um die Fragen: Wie viel Energie benötigt das Unternehmen? An welchen Stellen können Einsparungen realisiert werden? Heute wird Nachhaltigkeit sehr viel wei­ter gefasst. Man versteht darunter nicht nur die ökologische und die ökonomische Verantwortung, sondern insbesondere auch die soziale Verantwortung. Inner­halb dieser drei Bereiche haben wir unsere Wesentlichkeitsmatrix mit den jeweiligen Verantwortungsfeldern, wie z. B. Klima­schutz und Energie, identifiziert, und da­durch manifestiert sich unsere Nachhal­tigkeitsstrategie.

Wie setzen Sie ökologische Nachhaltigkeit in der Markenführung um?

SH: Wir nehmen das Thema Nach­haltigkeit sehr ernst. Auch wenn unser Active O2 und Teile unserer Adelholzener Sortimente überregional distribuiert sind, liegt der Vertriebsfokus der Adelholzener Alpenquellen auf der Heimatregion Bay­ern. Hier werden auch werbliche Schwer­punkte gesetzt und hier verzeichnen wir die stärksten Zuwächse. Darüber hinaus können wir mit einer stark zukunftsori­entierten Verpackung aufwarten – wir ha­ben, anders als der Rest der Branche, eine Mehrwegquote von über 80 %.

Nachhaltigkeit und gute Umsatzzahlen lassen sich nicht immer zu 100% vereinen. Oder doch?

SH: Nachhaltiges Wirtschaften lässt sich in Einklang bringen mit Wirtschaftlichkeit. Indem wir zum Beispiel in der Region Mehrweggebinde anbie­ten und ausgesteuerte Werbung fahren, stärken wir diese Entwicklung. Was uns generell wichtig ist, ist Markenführung, die sich stark an den Verbraucher:innen orientiert. Nur wer die Verbraucher:innen wirklich versteht und Demut vor ihnen hat, kann letztendlich zielgruppenspezifi­sche und nach Verwendungssituationen ausgerichtete Produkte entwickeln und vermarkten.

Welche Rolle spielt der Orden als Gesellschafter für die Ausrichtung des Unternehmens und die Unternehmenskultur?

SH: Als Schwester Rosa Maria 2016 Generaloberin wurde, hat man recht schnell gemerkt, dass die Werte, für die der Orden steht, auch bei den Adelhol­zener Alpenquellen zunehmend an Be­deutung gewinnen. Die Bitte des Ordens war, eine proaktive und intensive Werte­arbeit auch im Unternehmen umzusetzen und zu leben. Da war zunächst schon die große Frage, ob man die Ordenswerte eins zu eins auf einen Wirtschaftsbetrieb übertragen kann. Wir haben uns dann alle gemeinsam auf den Weg mit offenem Ausgang gemacht – dabei gab es viele Ge­spräche und Werte­Workshops. Am Ende ist es uns tatsächlich gelungen, die fünf Werte der Kongregation für unser Unter­nehmen neu zu interpretieren, um sie auch für alle Mitarbeiter:innen verständlich zu machen. Derzeit sind wir dabei, die Werte durch Schulungen der Mitarbeiter:innen im Unternehmen immer stärker zu veran­kern. Unabhängig von den Werten geht es uns natürlich um 100% soziale Verant­wortung. Dies ist nur möglich, weil wir als Gesellschafter einen Orden haben, der die Gewinne des Unternehmens nach be­trieblichen Investitionen – um langfristige Arbeitsplätze zu erhalten – komplett in soziale Zwecke investiert.

Schwester Rosa Maria, was hat Sie dazu bewogen, Ihre Ordenswerte auch im Unternehmen verankern zu wollen?

Sr. ROSA MARIA DICK: Die fünf klassischen Werte der Münchner Kongregation der Barmherzigen Schwestern haben wir im Jahr 2006 formuliert und ein Jahr später durch einen Werteauftrag ergänzt. Auslöser war, dass immer mehr Schwestern aus dem aktiven Dienst aus­geschieden sind und auf ihre Positionen weltliche Mitarbeiterinnen und Mitarbei­ter nachgerückt sind. Da haben wir ge­merkt: Die machen das gut, aber an was sollen sie sich orientieren? Wir standen hier in der Bringschuld und haben unse­re Werte somit klar definiert. Daraus sind die Werte in dieser Form entstanden. Also, was verstehe ich denn überhaupt unter Barmherzigkeit oder was heißt Dienen – Miteinander – Füreinander? Was heißt das für uns als Orden, in dem Krankenhaus, das der Orden führt – oder eben bei Adelholzener?

Welche Relevanz haben christliche Werte in der modernen Welt?

Sr. RM: Den Möglichkeiten in Wis­senschaft, Technik und im Digitalen sind heute kaum mehr Grenzen gesetzt. Ge­rade darum sind in der jetzigen Zeit die menschlichen und christlichen Werte so wichtig. Ich habe kürzlich das Buch „Di­gitale Ethik“ von Sarah Spiekermann ge­lesen. Sie schreibt über die Bedeutung der menschlichen Werte. Sie seien jetzt so re­levant, weil die Gefahr größer ist denn je, dass man vom Digitalen überrollt wird, und es kein Segen mehr ist, wenn es Men­schen ersetzen soll, anstatt sie zu unter­stützen. Wie diese Werte in der heutigen Zeit erfahrbar und erlebbar werden, hat sich allerdings ein wenig verändert. Mir war und ist deshalb sehr wichtig, dass die Menschen unsere fünf Werte „erfahren“ können und bei sich selbst spüren, und so sind auch unsere Werte­-Workshops auf­gebaut. Beispielsweise behandeln wir die Frage: Was bedeutet mir als Person ein Wert wie Barmherzigkeit in meinem pri­vaten und beruflichen Umfeld?

SH: In dem Wertekodex steht unter anderem geschrieben: „Wertschätzung pflegen und fördern. Wir sind herzlich, wohlwollend, vertrauensvoll und wert­schätzend aus Überzeugung. Denn das beflügelt und stärkt uns. Wir respektieren und schätzen jeden Menschen in seiner Art und Andersartigkeit. Um anderen Wertschätzung entgegenbringen zu kön­nen, bringe ich sie zuerst mir selbst ent­gegen. Diese Kultur der Wertschätzung pflegen wir gemeinsam, damit wir wach­sen, uns entfalten, dankbar und glücklich sein können.“ Der Punkt, dabei achtsam mit sich selbst umzugehen, war der In­put von Schwester Rosa Maria. Wer sich selbst nicht stärkt, hat auch keine Kraft für andere. Und wenn es einem selbst nicht gut geht, dann fehlt einem die Kraft im Leben. Diese Werteschulung erleben wir in unserem Unternehmen als eine Be­reicherung.

Und wie bringt man diese Werte im Unternehmensalltag zum Leben?

Sr. RM: Ich wiederhole in jedem Werte­-Workshop, dass sich Werte nicht nach dem Motto „dreimal täglich un­zerkaut mit Flüssigkeit einnehmen“ ver­ordnen lassen. Werte muss man für den Einzelnen erfahrbar machen. Ich muss die Werte kennen, sie verstehen, nachfragen und sie für mich akzeptieren. Nur dann kann ich das auch leben und weitergeben.

SH: Aktuell erstellen wir einen Leit­faden, in dem genau diese Werte veran­kert sind. Wir Geschäftsführer tun vieles dafür, um diesen Auftrag in die Organi­sation zu tragen und wirklich erlebbar zu machen. Natürlich gelingt uns das nicht immer. In manchen Bereichen stellt uns das im Moment noch vor eine besonde­re Herausforderung, aber wir sind guter Dinge, die Werte auch dort in Zukunft erfolgreich vermitteln zu können.

Sr. RM: Wir haben bei Adelholzener knapp 600 Mitarbeiter:innen. Im Alltag mit diesen vielen Menschen sind unsere Werte in unterschiedlichen Situationen wie ein Geländer. Sie sind für uns keine nette Ergänzung, wie eine Verzierung oder ein Sahnehäubchen, sondern sollen uns in erster Linie helfen, unseren All­tag gut zu gestalten und zu leben. Dazu gehört, Entscheidungen zu treffen, die richtigen Mitarbeiter:innen zu finden, sie zu fördern und auch zu versuchen, Kri­sen werteorientiert zu lösen. Etwa wenn man sich von einem Mitarbeiter trennen muss  – wie kann diese Trennung werte­orientiert sein?

Für Führungskräfte sicher keine kleine Herausforderung.

Sr. RM: Werte sind manchmal gar nicht so einfach zu praktizieren. Unse­re Mitarbeiter:innen schauen natür­lich auf ihre Vorgesetzten, aber auch die sind natürlich nicht unfehlbar. Dann kann Wertearbeit auch mal be­deuten, sich Fehler einzugestehen und sich bei seinen Mitarbeiter:innen zu ent­schuldigen. Leben würdigen, Dienen – Miteinander – Füreinander, Wertschät­zung pflegen und fördern, das kann eben auch eine Entschuldigung sein.

Schwester Rosa Maria, gab es schon mal eine Situation, in der Sie zwischen kirchlichen Werten und Wirtschaftlichkeit abwägen mussten?

Sr. RM: Wir hatten mal eine sehr starke Saison, in der es zu Liefereng­pässen kam. Die Geschäftsführung hat keinen anderen Ausweg mehr gesehen und die Mitarbeiter:innen gebeten, auch am Sonntag mit einzuspringen. Das hat auch mich vor eine moralische Heraus­forderung gestellt, denn der Sonntag ist über Jahrzehnte geschützt worden, und ich soll jetzt sofort Ja oder Nein sagen. Zunächst hat dann die Geschäftsführung definiert, was Sonntagsarbeit konkret bedeutet: Es betrifft ungefähr 75 Mit­arbeiter, die arbeiten maximal zehn oder zwölf Sonntage, sie arbeiten zehn Tage und haben vier Tage frei, das ist auch noch familienfreundlich und es handelt sich maximal um ein halbes Jahr. Da haben wir gemerkt, das funktioniert! Die Geschäftsführung hätte auch sagen können: „Seid ihr von gestern und seht nicht, dass wir bankrottgehen können, wenn wir weiterhin nicht liefern kön­nen?“ Stattdessen waren sie den Ordens­schwestern, dem Sonntag und den Mit­arbeiter:innen gegenüber wertschätzend. Ich dachte damals: „Die haben uns jetzt in der praktischen Wertearbeit überholt.“

Die Gewinne von Adelholzener fließen in Ihre karitativen Einrichtungen, zum Beispiel in zusätzliche Planstellen in Altenheimen, Sie planen auch ein neues Krankenhaus mit Betten für Obdachlose, um nur zwei Posten zu nennen. Ist das etwas, was die Belegschaft bei Adelholzener motiviert?

SH: Im Rahmen der Wertearbeit kam öfter mal die Frage: „Ja, und was heißt das jetzt für den Gabelstaplerfahrer?“ Nun, allein, dass er weiß, dass die Früchte seiner Arbeit in den sozialen Bereich fließen, tut schon gut. Wir verkaufen Mineralwasser, das ist ein tolles, gesundes Produkt. Und die Gewinne daraus gehen nach den betrieblichen Investitionen in Bereiche hinein, wo wir alle wissen, es profitieren die Menschen, die es wirklich brauchen. Alles, was wir verdienen, geht an kranke oder bedürftige Menschen. Und das ist ein bereicherndes und erfüllendes Gefühl.

Sind Unternehmen mit einem Orden oder einer Kirche als Gesellschafter:in oft deshalb so erfolgreich, weil sie eine langfristige Unternehmensstrategie haben und weniger auf Quartalsbilanzen schauen?

SH: Das mit der langfristigen Strategie kann man mit Sicherheit bejahen. Die Ordenskongregation sieht das Geschäft langfristiger als z.B. eine Aktiengesellschaft. Interessanterweise führt das aber nicht dazu, dass man weniger auf Gewinne achtet. Man spürt, dass die Schwestern da sind und auf unsere Geschäfte achten. Und ja, wir verdienen Geld, das wollen und müssen wir auch. Aber das hat ein anderes Niveau. Wir wissen, dass die Ordenskongregation uns Vertrauen entgegenbringt, daraus entsteht für uns eine Verpflichtung. Mir würde angst und bange werden, wenn dieses wertschätzende Miteinander zwischen der Ordenskongregation und uns als Geschäftsführung aus irgendwelchen Gründen aus den Fugen geraten würde. Die Wertschätzung ist immer da und das verpflichtet und verbindet.

Der Orden ist nicht nur Gesellschafter von Adelholzener, sondern durch den Beirat auch in alle unternehmerischen Entscheidungen eingebunden. Sprechen Sie tatsächlich alles ab?

SH: Es gibt keine Werbung und keine Produkt, das wir einführen oder umsetzen und das die Schwestern nicht zuvor gesehen und befürwortet haben. Alles, was wir tun, muss auch den Segen der Schwestern und des Beirats erhalten.

Gibt es für Sie Grenzen, Schwester Rosa Maria?

Sr. RM: Im vergangenen Jahr haben wir einen Werbeslogan abgelehnt, da wir diesen als nicht ganz stimmig empfunden haben. Wir haben schnell gemeinsam einen neuen Vorschlag gefunden, der allen gefallen hat.

Warum sind Sie neuerdings etwas weniger zurückhaltend in der Kommunikation Ihrer karitativen Projekte?

SH: Die Menschen wollen heute alles über die Produktion, den Umgang mit den Mitarbeiter:innen und die Einstellung gegenüber Nachhaltigkeit wissen. Gleichzeitig werden soziale Medien immer wichtiger. Angesichts dieser Entwicklungen sehen wir keinen Grund, unseren karitativen Beitrag nicht intensiv zu kommunizieren. Dass wir zum Beispiel einen Aufzug in einem Alten- und Pflegeheim einbauen und die Bewohner:innen deswegen keine höheren Kosten fürchten müssen, wollen wir den Menschen mitteilen. Ich glaube, das sind Inhalte, die die Menschen tatsächlich erfahren wollen. Wir hatten auch schon Slogans diskutiert wie z.B. „Trinken für einen guten Zweck“ oder „Die Kraft, Gutes zu bewirken“, da gibt es verschiedene Ansätze, wie man noch kommunikativ tätig werden kann.

Es gibt kaum noch Frauen, die in einen Orden eintreten. Was bedeutet das für Ihren Orden – und was bedeutet es für die Zukunft von Adelholzener?

Sr. RM: Der Orden wird kleiner, viel leicht gibt es ihn irgendwann gar nicht mehr. Aber der Ordensauftrag, also diese gelebte Barmherzigkeit, bleibt – da bin ich ganz sicher. Barmherzigkeit braucht es vor allem in der Zukunft. Darum machen wir unsere Wertearbeit, wo ich sage, es geht mit anderen Menschen in einer anderen Form weiter. Da haben wir als Orden einen Auftrag, nämlich auch für weltliche Mitarbeiter:innen Möglichkeiten zu schaffen, für Menschen da zu sein, denen es nicht so gut geht. Es gibt viele junge Menschen, die auf der Sinnsuche sind, und ja, vielleicht können wir noch ein bisschen erfinderischer werden und neue Begegnungsorte und Räume schaffen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Dieses Interview erschien zuerst in TWELVE, dem Magazin der Serviceplan Group für Marken, Medien und Kommunikation. Weitere spannende Artikel, Essays und Interviews von und mit prominenten Gastautor:innen und renommierten Expert:innen lesen Sie in der achten Ausgabe unter dem Leitthema „A Human-driven Future: Wie der Mensch das digitale Morgen prägt“. Zum E-Paper geht es hier.

Die Corona-Krise hat den Einzelhandel eiskalt erwischt – und ein Zurück zum Business as usual kann es nicht geben. Wie geht es für den Retail weiter? Das wollte Florian Haller von s.Oliver Group CEO Claus-Dietrich Lahrs wissen. Wie sich das Einkaufsverhalten der Menschen durch die Pandemie verändert hat, mit welcher Strategie s.Oliver die Kund:innen in die stationären Stores zurückholen möchte und warum Kaufhäuser keineswegs aus der Zeit gefallen sind.

FLORIAN HALLER: Die Corona-Krise hat s.Oliver schwer getroffen und für rückläufige Umsätze gesorgt. Wie haben Sie diese Krise erlebt?

CLAUS-DIETRICH LAHRS: Die gesamte Branche hat sie als unnötige Krise erlebt. Das haben wir auch immer versucht klarzumachen und gesagt, bitte in den Lockdowns nicht einen Bereich schließen, der wichtig ist, damit sich die Menschen auch weiterhin unterhalten, verwöhnen und etwas Schönes ansehen können – und zwar bei einem extrem überschaubaren Ansteckungsrisiko. Für uns als Unternehmen war Corona ein Einschnitt, mit dem wir so nicht gerechnet haben. 70 % unseres Geschäfts, 30 % machen wir ja online, waren plötzlich nicht mehr da. Wir haben versucht, mit den Kund:innen in Kontakt zu bleiben und ihnen mit kreativen Ideen zu vermitteln: Wir sind für euch da und würden euch auch weiterhin gerne mit schönen Kollektionen beglücken. Zum Beispiel haben wir per WhatsApp und Video-Calls in verschiedenen Stores durch die neuen Kollektionen geführt. Aber damit lässt sich natürlich nur ein Bruchteil dessen, was man an Geschäftsausfall hat, auffangen.

Konnten Sie diese Phase in irgendeiner Weise für sich nutzen?

CDL: Wir haben gesagt, wir wollen trotz Krise die großen Projekte weiterentwickeln, was die Themen Geschwindigkeit, Innovation, Shop-Konzepte und Shop-Experience sowohl im eCommerce als auch im physischen Retail angeht. Und wir wollen vor allem in der Entwicklung unserer Kollektionen näher an den Markt ran und das, was wir an Trends beobachten, noch kurzfristig in sie hinein übersetzen. Diesen Prozess wollen wir mit digitaler Entwicklungstechnik begleiten, um alles, was bislang nur auf physischem Wege möglich und zum Teil sehr zeitaufwendig war, zu verkürzen. Ich glaube, wir haben diese Zeit gut genutzt. Ein Handicap war natürlich, dass wir nicht wussten, wann geht’s wieder los. Deswegen waren wir vorsichtig, was die Einschätzung des zweiten Halbjahres 2021 anbelangt. Insgesamt haben wir das Unternehmen durch einen enormen Innovationsschock getrieben, um klarzumachen: Wenn die Einschränkungen verbindlich enden, dann haben wir eine agilere, schnellere und auch für Veränderungen offenere Organisation, als wir sie vor der Corona-Krise hatten.

Hat die Corona-Krise Ihren Blick auf den Kunden verändert? Steht der Kunde bei Ihnen heute mehr im Mittelpunkt?

CDL: Wir haben in der Krise deutlich stärker als vorher darüber nachgedacht, was wir Kund:innen an Botschaften anbieten können, ohne dass sie bei uns im Store stehen. Zum einen haben wir uns intensiv damit beschäftigt, wie wir den E-Shop als Kommunikationsfenster nutzen können. Und zum anderen, wie wir Content, den wir bisher nur physisch in den Geschäften präsentiert haben – das war und bleibt unser wichtigster Kanal –, digital so aufgeheizt kriegen, dass unsere Kund:innen über diesen Weg auch in die Stores zurückkommen.

In Geschäften hat man als Kunde ehrlich gesagt oftmals nicht das Gefühl, im Mittelpunkt zu stehen. Das Thema Customer Centricity scheint beim stationären Handel noch nicht richtig angekommen zu sein. Wie sehen Sie das?

CDL: Wir haben festgestellt, die Kund:innen kommen heute nicht mehr einfach mal vorbei. Sie sind deutlich besser informiert und kommen mit konkreteren Wünschen. Und da müssen wir besser aufgestellt sein.

Was bedeutet das im Einzelnen?

CDL: Wir müssen die Kund:innen anders begrüßen und sie in der Zeit, in der wir sie dahaben, besser bedienen. Das heißt, nicht nur einfach bedienen im Sinne von: Das ist das Produkt, da ist die Kabine und jetzt schauen Sie mal. Sondern das heißt, den Dialog in Gang zu halten und die Kund:innen zu unterhalten. Das ist in unserem Geschäft in der Vergangenheit nicht notwendig gewesen. Wir hatten die Einstellung: Da ist ein gewisser Frequenz-Flow, den müssen wir gut abschöpfen und warenmäßig darauf vorbereitet sein. Heute geht es eben auch darum, dass wir denen, die kommen, das Gefühl geben: Der Weg hat sich gelohnt. Und deswegen wird der Store, anders als der Webshop, zur Erlebnisbühne werden müssen. Es geht nicht mehr nur darum, Ware in den richtigen Farben und Größen zu präsentieren, sondern es muss was passieren, vom Eintritt der Kund:innen bis zum Verlassen unseres Geschäfts.

Der Store verliert also ein Stück weit seine Logistik-Funktion und gewinnt mehr Marken-Funktion.

CDL: Ja, eindeutig.

In welcher Form wird das für mich als Kunde in den s.Oliver Stores erlebbar?

CDL: Im Dezember machen wir, um ein Beispiel zu nennen, in München ein sehr schönes Geschäft mit einer großen Mezzaninefläche auf. Wir haben uns entschieden, diese Fläche mit Kunst zu gestalten, die repräsentiert, wer wir sind und wo wir herkommen. Bei uns ist das Handwerkliche, das Verständnis im Umgang mit der Textilie, mit den Stoffen, nach wie vor ein ganz wichtiger Punkt. Das wollen wir in künstlerischer Form inszenieren, lassen dem von uns beauftragten Berliner Künstler Peter Lindenberg dabei aber viel Freiheit. Für uns waren Stores in der Vergangenheit reine Transaktionsbühnen, das dürfen sie in Zukunft nicht mehr sein. Das Thema Kunst wird deshalb für uns wichtiger werden. Etwa Innovativ: Multimediale Tische vermitteln die Markenwelt von S.Oliver. Viel Platz und helle, zurückhaltende Farben: die perfekte Bühne für die Kollektionen. Standard Kaufhäuser mit einem Standardangebot werden in Zukunft sicherlich zu kämpfen haben. indem wir mit diesem Künstler in regelmäßigen Abständen Ausstellungen organisieren, um den Münchner Store aus der reinen Transaktion rauszunehmen.

Der Share vom physischen Abverkauf zum Online-Handel hat sich bekanntermaßen stark in Richtung Online verschoben. Wie werden sich die beiden Vertriebswege bei s.Oliver in Zukunft entwickeln?

CDL: Wir beobachten, dass viele, die bisher nicht online unterwegs waren, während Corona plötzlich entdeckt haben: Oh, das funktioniert. Und inzwischen Dinge sehr konsequent online tun. Wir sehen aber auch, dass eines im Online-Handel zu kurz gekommen ist, nämlich die physische Begegnung, das Berühren von Produkten. Nur so lässt sich ein Gefühl entwickeln, was ist das für ein Stoff, wie trägt er sich, wie fühlt er sich an? Der Webshop hat für uns inzwischen eine sehr wichtige Funktion, dort präsentieren wir das größte Angebot und auch immer mehr Informationen bis hin zur Passform-Thematik. Das sorgt dafür, dass die Kund:innen, wie schon gesagt, deutlich informierter in die Stores kommen. Aber die Menschen sagen eben auch: Wenn ich schon den ganzen Tag im Home Office bin und jetzt auch noch alles online bestelle, dann wird das irgendwann eine sehr arme Veranstaltung. Wir sehen, dass der Weg zurück in die Geschäfte, gerade am Samstag, unglaublich wichtig geworden ist. In der Vergangenheit hatten wir auch während der Woche relativ gut verteilte Frequenzen. Weil die Menschen in der Woche in der Innenstadt gearbeitet haben und dann in der Mittagspause oder nach Feierabend noch kurz in die Stores gegangen sind. Das fällt durch das Homeoffice weg. Das heißt, wir müssen an den Samstagen – hoffentlich kommt auch mal der Sonntag dazu – deutlich besser vorbereitet sein.

Ein Begriff, der immer häufiger fällt, ist OMO – online merges with offline. Wird s.Oliver künftig digitale Technologien in seine Verkaufsstrategie integrieren?

CDL: Das hat schon stattgefunden, mit unserer App. Wenn wir unsere Kund:innen erst mal auf der App begrüßen können, dann ist das der größte Umsatztreiber. Aber auch die App darf nicht nur Transaktion sein. Wir denken zum Beispiel darüber nach, kleinere virtuelle Fashion-Shows über die App zu spielen, um immer zu Beginn des neuen Monats, wenn auch eine neue Kollektion bei uns hängt, zu signalisieren: Es lohnt sich, wieder zu uns zu kommen und zu schauen. Heute versuchen alle, besser zu verstehen: Auf welchen Plattformen sind meine Kund:innen eigentlich unterwegs, wo kann ich sie erreichen, wo kann ich sie glaubwürdig für mich begeistern? Da stehen wir noch am Anfang, wo und wie wir uns authentisch einbringen können. Aber ich glaube, dass sich die klassische Trennung von physisch und digital sowohl kanal- als auch erlebnisbezogen sehr schnell auflösen wird.

Kaufhäuser gelten als aus der Zeit gefallen und haben in Deutschland aktuell einen schweren Stand. Wie sehen Sie die Zukunft der Kaufhäuser?

CDL: Es gibt gute und die werden auch in Zukunft eine Riesenbedeutung haben. Wenn wir uns anschauen, was im KaDeWe oder bei Breuninger passiert, da gibt es eine berechtigte Erwartung, dass diese Häuser in Zukunft weiter bestehen. Aber sie müssen etwas bieten in puncto Marken-Mix, Restauration, besondere Momente des Jahres, die durch das Kaufhaus gelebt werden. Und natürlich ist das Thema Tourismus ein ganz wichtiger Punkt. Tendenziell werden Kaufhäuser in Städten eine starke Position haben, in denen auch Tourismus eine starke Position hat. Es wird wahrscheinlich nicht mehr in allen Städten Deutschlands Kaufhäuser geben – und das Standard-Kaufhaus mit einem Standardangebot als Anker innerhalb einer mittelgroßen Stadt wird sicherlich zu kämpfen haben.

Seit 1998 verfolgt s.Oliver eine internationale Expansionsstrategie. Welche Märkte sind für Sie wichtig und welches Potenzial sehen Sie hier für die Zukunft?

CDL: Ich glaube, wir tun uns einen Gefallen, wenn wir uns mit unseren Marken auf die Märkte konzentrieren, in denen wir schon einen gewissen Bekanntheitsgrad haben. Das ist die Grundvoraussetzung für weiteren geschäftlichen Erfolg. Wir werden sicherlich keine globale Marke sein und wir werden uns auch nicht Amerika und China vornehmen. Aber wir sind heute in den Benelux-Ländern, Kroatien, Österreich, Russland, der Schweiz, der Slowakei, Slowenien und Tschechien präsent. Wir werden uns hauptsächlich darauf fokussieren, diese Märkte auszubauen und dort mit einem eigenen Webshop und einem überzeugenderen Angebot über unsere eigenen Stores aufzutreten.

Vielen Dank für das Gespräch. 

Dieser Artikel erschien zuerst in TWELVE, dem Magazin der Serviceplan Group für Marken, Medien und Kommunikation. Weitere spannende Artikel, Essays und Interviews von und mit prominenten Gastautor:innen und renommierten Expert:innen lesen Sie in der achten Ausgabe unter dem Leitthema „A Human-driven Future: Wie der Mensch das digitale Morgen prägt“. Zum E-Paper geht es hier.

Ich will alles und ich will es jetzt! Im Zuge der Corona-Pandemie haben die Menschen neue Ansprüche an ihre Arbeit entwickelt. Gerade die jungen Generationen wünschen sich heute berufliches Wachstum bei gleichzeitigem privatem Wohlbefinden, sie sind auf der Suche nach Selbstverwirklichung und Sinn. „Nowness Economy“ nennt Wolf Ingomar Faecks dieses Phänomen und rät: Wer als Unternehmen für Top-Talente langfristig attraktiv bleiben will, sollte fünf Handlungsprinzipien berücksichtigen und implementieren.

Rahmen schaffen zur kollegialen Selbstorganisation

April 2021 könnte man als Zäsur bezeichnen: Es ist der Monat, in dem in den USA ca. vier Millionen Arbeitnehmer:innen ihren Job gekündigt oder – anders formuliert – die sogenannte große Resignation (engl.: the great resignation) eingeläutet haben. Und laut einer Studie von Microsoft könnten es im Verlauf der kommenden Monate noch mehr werden – auch außerhalb der USA. Denn ca. 41 % der globalen Belegschaft zieht in Betracht, ihre: n Arbeitgeber:in zu verlassen. Die anrollende Kündigungswelle lässt sich unter anderem auf drei Beweggründe zurückführen:

Erstens haben viele Mitarbeiter:innen die Bindung zu ihrem/ ihrer Arbeitgeber:in verloren. Durch geringere oder rein onlinebasierte Interaktionen hat die Qualität des zwischenmenschlichen Austausches abgenommen. Dadurch fühlen sich viele Mitarbeiter: innen weniger gesehen, anerkannt und wertgeschätzt.

Zweitens hat die Pandemie die Ansicht der Arbeitnehmer:innen verstärkt, dass sie nur durch einen Unternehmenswechsel neue Fähigkeiten erlernen oder ihnen der nächste Karriereschritt offensteht. Wege zur Weiterbildung und zur Weiterentwicklung sehen sie im eigenen Unternehmen zum aktuellen Zeitpunkt und mit den derzeitigen Rahmenbedingungen nicht (mehr).

Drittens suchen Mitarbeiter:innen nach einem Jahr voller Veränderungen Möglichkeiten zur Neuausrichtung: Sie wollen nicht einfach in ihr altes Leben von vor der Pandemie zurückkehren, sondern die positiven Eigenschaften aus den letzten Monaten aufgreifen und den eigenen Lebensstil nachhaltig darauf ausgerichtet anpassen.

Zu diesen positiven Eigenschaften zählt unter anderem mehr Flexibilität hinsichtlich der eigenen Arbeitszeiten und Arbeitsabläufe. Denn aufgrund von Remote Work (dt.: dezentralisiertes Arbeiten) wird die tägliche Fahrtzeit zum Arbeitsplatz eingespart, die Planbarkeit des Arbeitstages erhöht und eine Vereinbarkeit von familiären und beruflichen Verpflichtungen besser ermöglicht. Dies erlaubt es den Arbeitnehmer:innen, sich verstärkt auf die Dinge in ihrem Leben zu fokussieren, die ihnen wirklich wichtig sind.

Daraus entsteht eine intrinsisch motivierte Nowness Economy (dt.: „Im Jetzt leben“-Wirtschaft). Statt Business as usual schlagen Arbeitnehmer:innen Lebenswege ein, die Selbstverwirklichung erlauben und Purpose stiften sollen. Berufsentscheidungen zugunsten von Sicherheit sollen nicht mehr auf Kosten wertvoller Lebenserfahrung gefällt werden. Damit sind sie nur noch mäßig bereit, Lebensqualität zugunsten von Karrieresprüngen aufzugeben. Vielmehr sollte eine Vereinbarkeit von beruflichem Wachstum und privatem Wohlbefinden gewährleistet sein: Arbeitnehmer:innen möchten im Jetzt von den neu entstandenen Freiheitsgraden profitieren, gleichzeitig heute schon das Morgen gestalten und dabei keine Kompromisse aufgrund beruflicher Gebundenheit eingehen.

Die Art und Weise, wie Unternehmen diesen Ansprüchen begegnen, wird sich darauf auswirken, wer bleibt, wer geht und welche neuen Arbeitnehmer:innen angezogen werden. Arbeitgeber:innen sollten somit die positiven Aspekte der letzten Monate nutzen und aus den Herausforderungen lernen, um für Top-Talente unter diesen Umständen langfristig attraktiv zu bleiben.

Um in diesem Kontext dem Zeitgeist der Nowness Economy zu begegnen, gilt es für Organisationen, fünf Kernaspekte zu berücksichtigen und zu implementieren:

1. Extreme Flexibilität statt alte Muster

Statt die gesamte Belegschaft zurück ins Büro zu ordern und in alte Muster zu verfallen, sollten Unternehmen spätestens jetzt die notwendigen Rahmenbedingungen für flexible Arbeitsmodelle schaffen. Dank moderner Arbeitsplatzbuchungssysteme und agilem Prozessmanagement können Fluktuationen in der Büroanwesenheit der Mitarbeiter:innen offengelegt werden. Damit wird den individuellen Lebensanforderungen der einzelnen Mitarbeiter:innen Tribut gezollt und zugleich wirkt man möglichen Peaks in der Büroauslastung entgegen. Folglich werden den Arbeitnehmer:innen die notwendigen Freiheitsgrade zugestanden, die Möglichkeit zur individuellen Handhabung der Büro- und Homeoffice-Zeiten gegeben und dadurch eine kontinuierliche Ausrichtung anhand der neuen Anforderungen der Nowness Economy sichergestellt.

2. Verbindung statt Differenzierung der physischen und digitalen Welt

Der Büroraum hört nicht mehr beim Büro auf. Damit geht die Verbundenheit zum Unternehmen weit über den physischen Arbeitsplatz hinaus. Entsprechend kann ein Eckpfeiler der Nowness Economy bedient werden, indem Führungskräfte ihren Fokus auf eine transparente Kommunikation legen. Dabei ist es elementar wichtig, dass Mitarbeiter:innen nicht nur mit digitalen Tools, sondern vielmehr mit einer digitalen Infrastruktur ausgestattet werden, die sie befähigt, an unternehmensinternen und -externen Diskussionen ortsunabhängig zu partizipieren. Folglich sollte sichergestellt sein, dass Zusammenarbeitsmodelle auch über unterschiedliche Zusammenarbeitskonstellationen hinaus möglich sind – unabhängig davon, wo die Mitarbeiter:innen sich physisch befinden. Entsprechend sollten Konzepte entwickelt werden und eine Tool- und Systemausstattung vorhanden sein, die Hybridsituationen erlauben und nicht behindern. So wird der Teamzusammenhalt auch über den physischen Raum hinaus gestärkt und sichergestellt, dass die Stimmen aller Mitarbeiter:innen gehört und berücksichtigt werden.

3. Employer Centricity statt optimierter Humankapitaleinsatz

Die Talentlandschaft hat sich verschoben und die Erwartungen der Mitarbeiter:innen haben sich verändert. Führungskräfte sollten sich in die individuellen Bedürfnisse jeder Gruppe in ihrem Unternehmen hineinversetzen und vom Onboarding über einen individuellen Karriereentwicklungspfad hin zu New-Work-Konzepten ein Umfeld schaffen, in dem jede:r Mitarbeiter:in sein/ihr Bestes zum Unternehmenserfolg beitragen kann und möchte. Somit gilt es, eine ganzheitliche Employer Experience innerhalb des Unternehmens zu implementieren, statt den Fokus rein auf die Optimierung der Ressourcenallokation auf unternehmensweite Projekte zu legen.

4. Freiräume zur Selbstverwirklichung statt einschränkende Handlungsvorgaben

Zwei Kernelemente der Nowness Economy sind zum einen der Drang nach Selbstverwirklichung und zum anderen das Bedürfnis nach Selbstbestimmung. Um diesen Aspekten als Arbeitgeber: in gerecht zu werden, bedarf es einer neuen Haltung hinsichtlich der Organisationsführung: Arbeitsweisen sollten für jedes Individuum innerhalb vorgegebener Rahmenbedingungen frei wählbar sein. Dafür braucht es jedoch einen neuen Führungsgedanken – Führungspersonen geben die grobe Marschrichtung vor und schaffen einen Rahmen zur kollegialen Selbstorganisation. So fördern sie einen fortwährenden Lernwillen und umfangreiche Mitgestaltungsmöglichkeiten, statt Mitarbeitermotivation einzuschränken.

5. Explizite Kulturarbeit statt implizites Kulturvakuum

Die Einführung von höheren Freiheitsgraden und hybriden Arbeitsmodellen werden einen elementaren Einfluss auf die zukünftige Organisationskultur nach sich ziehen. Es wird ein Kulturkonglomerat entstehen, das weniger auf Spontaneität als auf Planbarkeit basiert. Um diesem die gewünschte Authentizität zu verleihen und dadurch das Interesse der Mitarbeiter:innen zu wecken, sollten Unternehmen an Formaten zur aktiven Kulturgestaltung arbeiten, die das richtige Maß an Interaktionen schaffen. Dafür sollten Begegnungsumgebungen,
-möglichkeiten und -formate initiiert werden, um den Auswirkungen der Nowness Econonomy den nötigen Raum zuzugestehen und eine Entfaltung der damit einhergehenden neuen kulturellen Identität zu erlauben.

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die Art und Weise, wie Organisationen den neuen Anforderungen der Nowness Economy begegnen, an fünf Eckpfeilern festgemacht werden kann: Flexibilität, Freiräume, hybride Arbeitsformen, Mitarbeiter:innenzentrierte Organisationsformen und aktive Kulturarbeit. Denn nur so kann ein Zustand von Masseneinzigartigkeit statt -standardisierung erfolgen und sichergestellt werden, dass das Arbeitsumfeld Arbeitnehmer:innen befähigt, ihrer Selbstverwirklichung nachzugehen

Es darf also mit großer Wahrscheinlichkeit prognostiziert werden, dass es kein Zurück zum Zustand vor der Pandemie geben wird – oder zumindest geben sollte. Denn mit den veränderten Anforderungen der Mitarbeiter:innen werden Organisationen darauf angewiesen sein, von alten Standards abzuweichen und neue Verhaltensfreiräume zu schaffen. Weg von vorgegebenen Unternehmensrichtlinien wie festen Arbeitszeitvorgaben und Büropräsenz, hin zu flexiblen Arbeitszeiten und hybriden Arbeitskonzepten. Nur so wird es den Arbeitnehmer:innen ermöglicht, überall und in ihrem jeweiligen Lebenskontext ihr Arbeitsumfeld zu prägen und ihren Beitrag zur Gestaltung der Zukunft schon heute zu leisten.

Dieser Artikel erschien zuerst in TWELVE, dem Magazin der Serviceplan Group für Marken, Medien und Kommunikation. Weitere spannende Artikel, Essays und Interviews von und mit prominenten Gastautor:innen und renommierten Expert:innen lesen Sie in der achten Ausgabe unter dem Leitthema „A Human-driven Future: Wie der Mensch das digitale Morgen prägt“. Zum E-Paper geht es hier.

Die Real-Estate-Branche ist im Umbruch und sieht sich gefordert, zukünftige Arbeitswelten so auf die Bedürfnisse der Mitarbeiter:innen zuzuschneiden, dass diese gern ins Office kommen. Gerade nach der Corona-Pandemie und angesichts des starken Drangs zum Mobile Office. Warum und wie genau wird das mit dem Ansatz des Bold Brand Building erreicht? Und was können Agenturen hier leisten?

Nach Customer Centricity entwickelt sich Human Centricity zum neuen, überlegenen Buzzword. Der – ganz im Sinne des auf ein gutes Karma ausgerichteten Zeitgeistes – erweiterte Kreis von Adressat:innen umfasst damit, etymologisch betrachtet, auch die Mitarbeiter:innen. HR-Verantwortliche, die schon seit Jahren aktiv Employer Branding betreiben, dürften für diese Schlussfolgerung nur ein müdes Lächeln übrig haben. Und auch im Zusammenhang mit der Umsetzung von New Work ist die Mitarbeiterschaft in den Fokus der Betrachtung geraten, lange bevor Human Centricity in Mode kam. Was sich auf Unternehmensseite aber doch verändert hat, ist die Vehemenz der postulierten Empathie. Der Versuch einer Sozialisation von Mitarbeitern zu Getriebenen des Systems, das den wirtschaftlichen Zweck über alles stellt, ist längst vorbei. Der Wunsch nach Entschleunigung war bei vielen Beschäftigten sicher schon sehr früh da. Dramatisch verschärft hat sich in den letzten Jahren der gesellschaftliche Druck zu deren Realisierung. Jüngeren Generationen mag das Konzept des Akkords bereits jetzt als Relikt des (alten) Kapitalismus erscheinen, jedenfalls diametral zu human-driven – und eigentlich absurd. Dies verdeutlicht den Paradigmenwechsel zu einem immer tieferen Bewusstsein für die Notwendigkeit einer adäquaten Unternehmenskultur.

Was kann eine Agentur vor diesem Hintergrund für Unternehmen leisten? Welchen Beitrag zur Befriedigung von immer weiter in die Spitze der Bedürfnispyramide wachsenden Ansprüchen – also hin zu sozialen Bedürfnissen, Individualbedürfnissen und Selbstverwirklichung – können Agenturen erbringen? Für die Real-Estate-Branche hat sich die jüngst gegründete Agentur Saint Elmo’s Brandspace der Lösung dieser Frage verschrieben.

Die Real-Estate-Branche ist dafür prädestiniert, Unternehmenskultur zu schaffen, insbesondere der Bereich für gewerbliche Immobilien. Architekten, Planer und Real-Estate-Unternehmen mit ihrem spezifischen Know-how haben vor dem Hintergrund von New Work bereits erfolgreich moderne Nutzungskonzepte zur Stimulation der Mitarbeiterschaft entwickelt – und das mit nie gekanntem Elan. Doch ein Großteil der Ausrichtung am Menschen konzentriert sich im Wesentlichen auf deren funktionale Bedürfnisse: besseres Licht, besseres Klima, Rückzugsorte zur Entspannung, Kabinen für vertrauliche Kommunikation und flexible Räume für den kreativen Austausch im Team, smarter Wechsel zwischen Office und Homeoffice. Das alles sind reale Umsetzungen in Richtung funktionaler Anforderungen.

Zielt die Ausrichtung aber auf Bedürfnisse in der Spitze der Pyramide ab, geht es darum, Menschen auch Raum für ihre persönliche Entfaltung zu geben. Nicht für das private Wohlgefühl, sondern alles immer noch im Rahmen der Arbeit oder – zeitgemäßer ausgedrückt – im Rahmen der Stimulanz für bessere Ergebnisse des Teams. Für dieses kreative „Ankitzeln“ der Motivation des Einzelnen kann die Real-Estate-Branche in Kombination mit einer auf Markenführung ausgerichteten Agentur noch deutlich mehr erreichen.

Im Zuge der Corona-Pandemie zeichnet sich ab, wie wichtig es ist, dass Flächen in Unternehmen Erlebnisse im Raum schaffen, die Identität erzeugen. Identität bedient die Bedürfnisse in der Spitze der Pyramide, also jenseits des Funktionalen. Und Identität schafft Identifikation und damit eine gemeinsame Kultur.

Agenturen waren schon immer in die Vermarktung von Objekten eingebunden. In der Regel mit dem Standardprogramm „Naming, Corporate Design, Keyvisuals, Broschüre und Website“. In einem Verkäufermarkt und einem Umfeld verhaltener Fokussierung auf den Menschen mag das effizient gewesen sein. Marketing ist dann eine schöne Verpackung: die große Schaukel im Foyer von Unternehmensberatungen oder das Bällebad für die Lounge eines besonders kreativen Start-ups als Sinnbild realer Inszenierung von Unternehmenskultur – was im Einzelfall vielleicht sogar adäquat war, auf jeden Fall aber kurzfristig für Furore gesorgt hat.

Die konsequente Ausrichtung auf einen Grad von Human Centricity, wie ihn die Mitarbeiter der Zukunft fordern werden, kann allerdings nicht mit Marketing erfolgen, sondern nur mit der Königsdisziplin für Kommunikation: Markenführung. In der Umsetzung bedeutet das konkret die frühe Einbindung der Agentur in die Entwicklung eines Narrativs, sodass dieses zum Start des Nutzungskonzepts bereits vorliegt. Dann kann das Objekt substanziell am Narrativ ausgerichtet werden. Dabei hilft es, dass Agenturen wie keine andere Branche darin geübt sind, Insights von Zielgruppen festzustellen – wobei die Ausrichtung hier von jeher human-centric war.

Wenn die Anforderungen für die Offices der Zukunft aus echten Insights abgeleitet werden und in Nutzungskonzepten münden, Raum also konsequent human-centric gestaltet wird, ist es auch ein Leichtes für Agenturen, Kommunikation für die spätere Vermarktung zu kreieren. Mit einem Corporate Design, das das Narrativ eins zu eins widerspiegelt und dabei authentisch ist. Es werden Botschaften kommuniziert, die dem entsprechen, was das Produkt bietet. Und wenn es sich bei dem Objekt um ein exponiertes Gebäude mit Strahlwirkung für das Umfeld handelt, wird richtige Markenführung betrieben. Das ist nachhaltig – nicht nur für die Erstvermarktung, sondern mit Substanz. Und Nachhaltigkeit ist ja der Megatrend schlechthin. Klingt doch zukunftsfähig, oder?

Muss man Menschen mögen, um sie zum Thema seiner Kunst zu machen? Müssen Kunstwerke eine Botschaft haben? Und warum braucht der moderne Mensch in einer digitalisierten Welt Kultur, um optimistisch in die Zukunft zu schauen? Das wollten wir vom Bildhauer Stephan Balkenhol wissen. Wir besuchten den international bekannten Künstler in seinem Atelier im Kasseler Stadtteil Nord-Holland.

FLORIAN HALLER: Ihre Figuren wirken oft emotionslos. Warum dieser immer gleiche stoische Gesichtsausdruck?

STEPHAN BALKENHOL: Ich bevorzuge eine Ambivalenz im Ausdruck, statt eine extreme Emotion darzustellen, wie z. B. Lachen oder Weinen. Wenn ich das in Holz hauen würde, wirkte es wie eingefroren. Wenn ich einen indifferenten Ausdruck zeige, ist das offener. Das heißt, man kann sich als Betrachter oder Betrachterin alle emotionalen Befindlichkeiten denken. Der Ausdruck ist dann tatsächlich lebendiger.

Beim Betrachten Ihrer Figuren habe ich jedes Mal das Gefühl, als könne ich in diese Person hineinschauen. Erklären kann ich mir diesen Effekt nicht …

SB: Eine Schülerin meiner Frau hat einmal in einem Referat über meine Werke gesagt, sie seien wie hölzerne Spiegel. Ich glaube, sie sind eine Mischung aus Spiegel und Projektionsfläche. Man kann sich bei einer Figur überlegen: Was ist das für ein Mensch, was macht er, was denkt er, wo geht er hin, wo kommt er her? Oder man stellt sich vor, man selbst sei dieser Mensch. Man spiegelt sich mit seinem Empfinden in ihm. Beides ist möglich.

Sie sind, wenn ich das so sagen darf, nicht gerade der Typ extrovertierter Unterhalter …

SB: Nee.

Mögen Sie Menschen?

SB: Ich habe nichts gegen Menschen, aber ich habe sie nicht immer gerne
um mich. Ich bin auch gerne allein. Beim Arbeiten muss ich sogar allein sein, abgesehen von meiner Frau, das geht immer.
Aber bei den Kindern fängt es schon an, gleichwohl ich sie liebe, ist es tagesformabhängig, wie sie drauf sind und wie ich drauf bin. Grundsätzlich kann man nicht alle Menschen mögen, ich bin aber kein Misanthrop.

Sie haben mal gesagt, beim Arbeiten seien Sie in einem ständigen
Dialog mit dem Werkstück. Wie kann ich mir das vorstellen?

SB: Ich denke, dass ich mich über meine Skulpturen ausdrücken kann. Es ist meine Form von Kommunikation mit der Welt und gleichzeitig meine Erkundung von Welt.

KATHRIN BALKENHOL: Da muss ich mal einhaken. Ich glaube, dass Stephan sich durch die Arbeit selbst besser versteht. Ich habe manchmal das Gefühl, dass etwas Diffuses in ihm arbeitet, was er erst, wenn er sich einmal durch die Welt geschnitzt hat, begreifen und anfassen kann.

Hat das Schaffen eines Kunstwerks also einen therapeutischen Aspekt?

SB: Künstlerische Arbeit kann – wie jede andere Arbeit – auch heilsam sein.
Nicht primär, aber sekundär. Mir tut es natürlich gut zu arbeiten. Und das Betrachten einer Skulptur kann auch therapeutische Effekte haben. Ich hatte mal ein Erlebnis in Rom, da hatte ich eine große Skulptur, den „Sempre più“, auf dem Forum Romanum platziert. Plötzlich kam eine Italienerin auf mich zu und sagte, der Tag habe so schlecht angefangen – ich
weiß nicht mehr, ob Ehescheidung oder Steuerprüfung, auf jeden Fall war es ganz schlimm –, aber jetzt bei der Eröffnung würde es ihr schon besser gehen.

KB: Das Betrachten von Kunst kann einen neuen Reflexions- und Erkenntnisraum öffnen. Sicherlich hat jede:r in seinem oder ihrem Inneren Punkte … für die er oder sie keine Wörter und Bilder hat und um die er oder sie einen weiten Bogen macht. Das Kunstwerk kann helfen, Gefahren zu bannen und Ängste zu entkräften, indem es verbildlicht. Dann müsste man eher von einer magisch-kultischen Wirkung sprechen als von einer therapeutischen.

SB: Ja, aber diese existenziellen Fragen werden nicht illustrativ in den Skulpturen behandelt, sondern indirekt oder metaphorisch. Das ist ja manchmal so ein Missverständnis bei Kunst, dass einige Leute direkt irgendetwas erkennen oder eine Botschaft ablesen wollen. Und da entsteht dann bei meinen Arbeiten oft eine Irritation. Wie z. B. der Bojen-Mann, der in Hamburg auf der Außenalster steht, nichts verkünden will und sich dieser Erwartung verweigert. Von früher her ist man es gewohnt, dass Denkmäler im öffentlichen Raum automatisch eine wichtige Person darstellen sollen. Wenn das einfach ein Mann mit weißem Hemd und schwarzer Hose ist, braucht das bei manchen seine Zeit, bis sie verstehen, es könnte jeder sein, es könnte ich sein oder du.

Sie arbeiten hauptsächlich mit Holz. Warum dieses Material?

SB: Persönliche Affinität, und weil es mir eine Art von Freiheit gibt. Ich kann Holz selber bearbeiten und brauche keine Assistenten. Wenn ich einen Bronzeguss mache, dann geht das durch drei, vier Hände, bis die Arbeit fertig ist. Bei Holz dagegen kann ich wirklich alles selber machen. Ich könnte sogar selber in den Wald gehen und einen Baum fällen und daraus eine Skulptur machen. Holz kann man außerdem relativ schnell bearbeiten und es gibt keinen Umsetzungsprozess. Bei Ton oder Gips ist eine Umformung dabei, bei Holz hat man von Anfang bis Ende das Resultat vor sich.

Wie läuft dieses Arbeiten an einem Werk ab?

SB: Das Arbeiten ist eine Kommunikation mit dem Material. Ich könnte ja einmal mit der Kettensäge reinsägen und sagen: „Jetzt ist es fertig.“ Das Interessante ist die Entscheidung, wann höre ich auf. Es gibt ja Skulpturen, die bozzettohaft sind, also halb fertig, relativ grob gehauen, und andere sind wieder feiner. Diese Kommunikation, dieses Drumherumgehen und Überlegen, das macht das Arbeiten spannend. Da gibt es diesen Witz mit dem Bildhauer und dem Löwen, wo ein Besucher den Bildhauer fragt: „Ist das eigentlich schwierig, einen Löwen aus Marmor zu hauen?“ Und der Bildhauer sagt: „Es ist eigentlich ganz einfach, du musst alles weghauen, was nicht nach Löwe aussieht.“

KB: Es ist halt auch so, dass Stephan nur so schnell hauen kann, wie er denkt. Bei Stein oder Ton ist das anders. Stephan hat für Leipzig mal eine Richard-Wagner-Bronzeskulptur gemacht. Das Tonmodell für den Guss war fertig und sollte abgeholt werden. Wir wollten in zwei Tagen heiraten. Es hätte also viele Sachen gegeben, die getan werden wollten. Und dann ist Stephan morgens um fünf zum Atelier und hat dem Wagner noch mal ein völlig anderes Gesicht verpasst. Weil das Modellieren mit Ton eben so schnell geht und jeder Druck mit dem Finger schon einen Gesichtsausdruck produziert. Dieses additive Verfahren führt zu einem anderen Entscheidungsprozess. Das Verfahren mit dem Runterschlagen und Wegnehmen liegt Stephan irgendwie mehr.

SB: Wenn ich beim Schnitzen das Gefühl habe, ich habe keinen Blick mehr, dann mache ich eine Pause. Und wenn ich wieder weiß, wo es hingeht, arbeite ich weiter. Für einen Besuchenden im Atelier ist dies etwas irritierend, weil er oder sie mich die meiste Zeit beim Arbeiten rauchend um die Skulptur laufen sieht.

© Stephan Balkenhol / VG Bild-Kunst, Bonn

Macht es einen Unterschied, mit welchem Holz Sie arbeiten?

SB: Aus der Erfahrung weiß ich, für welchen Zweck welches Holz am besten geeignet ist. Die Reliefs für Serviceplan z. B. sind aus Pappelholz. Da weiß ich, dass die Farbe sich im Laufe der Zeit nicht verändert. Wenn wir Nadelholz nehmen würden, würde es durch das Harz mit der Zeit dunkler werden und es bildet kleine Risse. Aber generell nehme ich das Holz, das ich dahabe oder gerade angeboten bekomme. Ich habe bestimmt schon aus zwanzig verschiedenen Holzarten Skulpturen gemacht. Es ist nicht so wichtig. Ich mache ja keine Holzskulptur, um zu zeigen, wie toll Holz ist, sondern ich benutze das Material als Mittel zum Zweck.

Holz ist, anders als Stein, ein organisches, lebendiges Material. Spielt das eine Rolle für Sie?

SB: Ja, Holz ist ein lebendiges Material und arbeitet immer. Auch in hundert Jahren noch. Stein würde ich auch noch als lebendiges Material bezeichnen, aber Stahl oder Kunststoff sind eher leblos.

Bei Skulpturen denkt man sofort an die Meisterwerke der Antike. Ist die Antike für Sie Inspiration?

SB: Ja, durchaus. Ich bin schon immer besonders gerne in Museen gegangen, die eine Antikensammlung haben. Die Glyptothek in München z.B. ist fantastisch.

Mich hat das archäologische Museum in Neapel total beeindruckt. Diese riesigen Statuen haben eine wahnsinnige Kraft.

SB: Die antiken Mythen, das sind schon große Erzählungen. Das sind große Bilder, und da wird immer über Bande gespielt, das ist ja das Schöne. Es ist nie dieses Unmittelbare, Direkte, sondern etwas Rätselhaftes. Und obwohl es göttliche Geschichten sind, ist es eigentlich der Mensch, der sich darin spiegelt.

Apropos spiegeln: Findet sich Ihre eigene Lebensgeschichte in Ihren Werken wieder?

SB: Sicher, das kann man ja nicht verhindern. Ich stamme aus einem ganz bestimmten kulturellen Milieu in Mitteleuropa, Deutschland. Da ist man natürlich geprägt von bestimmten Einflüssen. Ich komme aus einem katholischen Elternhaus und musste sonntags immer in die Kirche gehen. Dabei habe ich mich oft gelangweilt. Was mich aber fasziniert hat, war, die Heiligenfiguren zu betrachten. Irgendwann ist mir aufgegangen, diese Figuren sollen zwar den heiligen Antonius, die heilige Elisabeth und andere darstellen, aber eigentlich hat sich der Bildhauer aus dem 14. oder 17. Jahrhundert selbst und die Zeit, in der er gelebt hat, verewigt. Man spürt beim Betrachten solcher Figuren die Zeit und auch ihre Überzeitlichkeit. Das fand ich schon immer spannend.

Haben Sie ein Lieblingswerk von sich selbst?

SB: Im Prinzip ist es immer das, an dem ich gerade arbeite. Sonst könnte ich ja nichts anderes mehr machen. Dann hätte man ein Werk und könnte aufhören.

Was ist Kunst?

SB: Keine Ahnung (lacht). Das Gute an Kunst ist, dass sie zu nichts nutze ist – nicht nützlich sein muss. Und der Nutzen erst erfunden wird, wenn sie da ist und sich beweist. Dann merkt man, dass man nicht mehr darauf verzichten kann. Aber warum das so ist, ist individuell, das muss jede:r für sich selbst herausfinden.

Hat Kunst etwas mit Zeitgeist zu tun?

SB: Zeitgeist finde ich zu kurz gedacht. Es ist auch nicht Aufgabe der Kunst, irgendwelche Zeitgeist-Phänomene zu spiegeln. Dass sie natürlich beeinflusst wird durch irgendetwas, ist unbestritten und legitim, das kann man wahrscheinlich auch nicht verhindern. Die Erwartung, dass Kunst es zur Aufgabe hat, dieses Etwas zu kommentieren oder gar die Welt zu verbessern oder Gerechtigkeit zu verbreiten, das finde ich nicht richtig.

© Stephan Balkenhol / VG Bild-Kunst, Bonn

Steht ein Kunstwerk für sich oder immer im Kontext mit dem Menschen?

SB: Kunst hat immer mit Menschen zu tun, weil sie von Menschen gemacht ist. Und weil der Mensch derjenige ist, der sich das Kunstwerk anschaut, und ihn dies beeinflusst. Es verändert seinen Erlebnis- und Erkenntnishorizont, und das ist Teil des Kunstwerkes.

Wie stehen Sie eigentlich zum Kunstmarkt? Jede:r Künstler:in sagt ja erst mal: „Ist mir egal.“ Aber im Gespräch kommt dann doch ganz schnell: „Der und der hat mich jetzt wieder überholt im Preis.“ Wenn der Markt ganz so unwichtig wäre, dann würde man sich doch nicht messen, oder?

SB: Ich bin Teil des Betriebs und lebe davon, insofern bin ich dankbar, dass es den Kunstmarkt gibt. Sonst könnte ich so nicht arbeiten, wie ich arbeite. Dass jedes Marktgeschehen auch seltsame Blüten treiben kann, im Sinne von einem Hyperventilieren, ist halt so. Jonathan Meese hat mal was Schönes gesagt: Das mit dem Ruhm sei alles gut und schön, aber das Wichtigste für einen Künstler sei, wenn er in seinem Atelier stehen und arbeiten kann. Das ist das größte Glück.

Also hat Kunst tatsächlich etwas Therapeutisches …

SB: Glück ist immer therapeutisch.

Welche Rolle kann Kultur in unserer modernen Gesellschaft spielen?

SB: Vieles, was den Menschen früher Halt und Sicherheit gegeben hat, ist heute nicht mehr da oder hat seine Bedeutung verloren. Es gibt eigentlich nur noch die Hoffnung, dass der Staat oder die Politik alles einigermaßen so managt, dass man halbwegs gut leben kann. Ich glaube, dass Kultur die Funktion hat, eine immaterielle Ebene in der Gesellschaft aufrechtzuerhalten, die eine andere Art der Sicherheit schafft – beziehungsweise die Unsicherheit nicht als bedrohlich erscheinen lässt, sondern als natürlich: dass man trotz des Bewusstseins vom Tod und aller Schwierigkeiten glücklich sein kann!

Vielen Dank für das Gespräch.

Dieses Interview erschien zuerst in TWELVE, dem Magazin der Serviceplan Group für Marken, Medien und Kommunikation. Weitere spannende Artikel, Essays und Interviews von und mit prominenten Gastautor:innen und renommierten Expert:innen lesen Sie in der achten Ausgabe unter dem Leitthema „A Human-driven Future: Wie der Mensch das digitale Morgen prägt“. Zum E-Paper geht es hier.