Deutschlands Nokia-Moment

Nokia fühlte sich lange unschlagbar – dann kam das iPhone. Diese Geschichte sollte uns zu denken geben. Fünf Ideen für die Zukunft der deutschen Digitalwirtschaft und eine Botschaft: Es ist noch nicht zu spät, aber wir haben nicht mehr viel Zeit.

Zehn Jahre ist es her, dass die Handyfirma Nokia ihre Aktionäre mit einem Rekordgewinn von 7,2 Milliarden Euro begeisterte, mit einem Marktanteil im Handygeschäft von rund 40 % und mit Handys, die technisch perfekt schienen. Der finnische Konzern fühlte sich unschlagbar. Im gleichen Jahr stellte sich Apple-Chef Steve Jobs auf die Bühne. Er sagte „Heute wird Apple das Telefon neu erfinden“ – und hielt das iPhone vor jubelnden Fans in die Kameras. Der Rest ist Geschichte. Apple wurde zu einem der wertvollsten Unternehmen der Welt, Smartphones wurden zu einer Art Fernbedienung unseres Alltags – und Nokia verschwand aus diesem Alltag.
Die Nokia-Manager unterschätzten die Kraft des Neuen – und überschätzten ihr eigenes Produkt. Gleichzeitig waren sie blind für die Veränderung, die das iPhone brachte, weil sie mit den Tastentelefonen schlicht zu lange zu viel Geld verdienten. Auch die deutsche Wirtschaft eilt von Rekord zu Rekord: bei Exporten, bei der Industrieproduktion und an der Börse. Doch diese Rekorde erwirtschaften viele Unternehmen mit Innovationen aus einer industriell geprägten Welt: Sie optimieren Verbrennungsmotoren, entwickeln immer neue Luxusautos, verkaufen hoch optimierte Maschinen in alle Welt oder chemische Produkte.
Diese industriell geprägte Welt, in der Deutschland so stark ist, wird nicht so schnell verschwinden. Doch in Zukunft, hier sind sich viele Experten einig, entstehen Wachstum und Wohlstand vor allem in einer digital geprägten Wirtschaft.
Nicht Deutschlands Stärke. Zwar exportiert die deutsche Wirtschaft seit Jahren mehr, als Verbraucher und Unternehmen importieren. Der deutsche Handelsbilanzüberschuss wurde vor einigen Monaten von US-Präsident Donald Trump zu einem weltweiten Problem hochgejazzt. Dabei muss sich ausgerechnet der amerikanische Präsident keine Sorgen machen. Denn ein genauer Blick in die Zahlen offenbart ein ganz anderes Bild: Bei digitalen Gütern und Dienstleistungen – also den Gütern, die in Zukunft die Wirtschaft prägen werden – leidet Deutschland nach Berechnungen des Investors Klaus Hommels unter einem Außenhandelsdefizit von rund 26 Milliarden Dollar im Verkehr mit den USA. Pro Jahr. Wir importieren also heute schon weit mehr digitale Produkte, als wir exportieren. Und das ist kein Wunder, denn viele digitale Innovationen kommen aus den USA: Facebook, Google, Apple – sie alle begleiten unser Leben fast rund um die Uhr. Der Erfolg hat diese Unternehmen groß gemacht. Riesengroß.
Längst setzen Google und Amazon so viel Geld um wie kleine Staaten und stecken dieses Geld in immer neue Entwicklungen: in personalisierte Medizin zum Beispiel, Raumschiffe oder autonome Drohnen, die selbstständig Päckchen ausliefern. Kein anderes Unternehmen auf der Welt hat 2017 mehr Geld für Forschung und Entwicklung ausgegeben als Amazon. Und während die deutsche Wirtschaft über die Zukunft von Dieselmotoren streitet, vergrößern die digitalen Riesen aus den USA ihren Vorsprung, um auch in den künftigen Wachstumsfeldern eine Rolle spielen zu können, bei vernetzten, selbstfahrenden Autos zum Beispiel oder bei künstlicher Intelligenz.
Wir müssen uns in Deutschland „völlig neu kalibrieren“, sagt Hommels, der mit seiner Risikokapitalfirma Lakestar selbst in viele Wachstumsunternehmen investiert. Seine Botschaft: Wir müssen größer denken, mehr wagen – und vor allem müssen wir verstehen, dass wir nicht mehr viel Zeit haben.
Aber was heißt das? Spricht man dieser Tage mit Investoren, Forschern und Beratern, ergibt sich ein klares Bild: Es fehlt vor allem an Geld, Willen und einer Idee, in welchen Feldern die deutsche Wirtschaft gewinnen will. Die Gespräche zeigen aber auch, dass es vor allem auf fünf Punkte ankommt:

1. Zuerst muss sich unser Land ändern
Das ist wahrscheinlich die wichtigste wie auch schwierigste Aufgabe. Medien und Politik haben sich seit Jahren eine extrem technologiefeindliche Debatte geleistet. Sie haben Google Street View verteufelt, soziale Netzwerke als Untergang der westlichen Kultur ausgemacht und sämtliche Risiken rund um Algorithmen aufgereiht.
In dieser Zeit haben andere Länder losgelegt: Laut Handelsblatt kommen 23 % der Unternehmen, die sich auf künstliche Intelligenz spezialisiert haben, bereits aus China. Die Chinesen haben entschieden, in dem Feld bis 2030 Weltmarktführer zu sein – die Deutschen befassen sich derweil lieber mit den Risiken, um die Dienste dann später aus dem Ausland zu importieren.
Solange wir die Digitalisierung nicht als wichtigstes Zukunftsfeld erkennen, wird sich auch kein Politiker, der noch etwas werden will, lautstark für das Thema einsetzen. Erst wenn unser Land eine Willkommenskultur für digitale Ideen entwickelt, wird sich das ändern. Und ja, das zu ändern ist auch die Aufgabe der Medien.

2. Wir brauchen einen klugen Kopf an der Spitze
Wäre Deutschland ein Unternehmen, es gäbe ihn längst: den Chief Innovation Technology Officer. Denn die Aufgabe ist gewaltig: Deutschlands Wirtschaft muss sich in großen Teilen neu erfinden – ohne das alte Geschäft fallen zu lassen.
Deshalb braucht Deutschland einen starken Digitalminister. Dieser Innovationschef der Bundesregierung müsste zum Beispiel die digitalen Felder definieren, in denen Deutschland gewinnen will, und diese dann in Zusammenarbeit mit Unternehmen ausbauen: mit Investitionen, Steuervergünstigungen, direkter Förderung und, ja, klassischer Industriepolitik. So wie es beispielsweise China tut.

3. Es kann nur mit einem milliardenschweren Finanzierungsschub gelingen
In Europa fließen Milliarden als Subventionen in die Landwirtschaft. Start-ups bekommen nur einen Bruchteil solcher Summen. Das muss sich ändern. Denn aktuell konkurrieren europäische Wachstumsunternehmen mit Start-ups aus den USA, die mit fünfmal so viel Geld finanziert wurden. „Das Silicon Valley ist Deutschland in Sachen Finanzierung 40 Jahre voraus“, sagt Clark Parsons vom Thinktank Internet Economy Foundation in Berlin.
Das ließe sich ändern: wenn Investitionen in Forschung sowie in Start-ups voll von der Steuer absetzbar wären. Zudem müsste es für Pensionskassen und Stiftungen leichter werden, in Wachstumsunternehmen zu investieren. Allein in den USA fließen laut der Internet Economy Foundation aus Pensionskassen jedes Jahr 50 Milliarden Dollar in Risikokapitalfonds. Geld, das einerseits den jungen Unternehmen hilft. Und deren Wachstum andererseits bei den Anlegern für höhere Gewinne sorgen würde.
Vorbilder gibt es genug, und um die zu besichtigen, muss man nicht einmal weit reisen: Frankreich etwa erlässt Start-ups in ihren ersten Jahren Steuern. Zuletzt kündigte der französische Präsident Emmanuel Macron an, einen neuen Fonds mit zehn Milliarden Euro aufzulegen, der in Wachstumsunternehmen, Start-ups und neue Technologien investieren soll. Die Summe ist immer noch klein, verglichen mit dem Tech-Investment-Fonds über 93 Milliarden Dollar, den der japanische Konzern Softbank aufgelegt hat – mit Geld aus Saudi-Arabien, Abu Dhabi und von einigen US-Tech-Konzernen wie Apple. Dennoch wäre ein solcher Fonds ein erster Schritt, den Deutschland auch gehen muss.

4. Wir brauchen einen Plan …
… und zwar ein großes Projekt, das die positiven Möglichkeiten der Digitalisierung zeigt und das darüber hinaus noch die digitale Wirtschaft antreibt. Eine komplett digitalisierte Verwaltung wäre so eine Idee – inklusive des gesamten Gesundheitssektors. Keine Wartezeit in Bürgerbüros mehr, schnelle Antworten auf sämtliche Fragen an die Verwaltung, schnelle Genehmigungen und jederzeit Zugriff auf die letzten Blutwerte beim Arzt: Die Lebensqualität von Millionen Menschen würde steigen, nicht zuletzt der Menschen abseits der urbanen Ballungsräume.
Das würde jungen Unternehmen und Technologieanbietern einen kräftigen Schub verleihen. Sie könnten sich um die Ausschreibungen bemühen, müssten neue Anwendungen entwickeln und könnten diese Technologien anschließend auch an Unternehmen und möglicherweise andere Länder verkaufen. Gefragt wären Unternehmen aus den unterschiedlichsten Zukunftsbereichen: Spezialisten für künstliche Intelligenz, Datenbankprofis und Internet-Sicherheitsexperten.

5. Allein werden wir es nicht schaffen
Nicht nur US-Fonds investieren Milliarden in ihre Wachstumsunternehmen, auch ihre chinesischen Pendants. Dort sind – fast unbemerkt vom Rest der Welt – gigantische Player entstanden: Der Internetkonzern Tencent zum Beispiel investiert in einige der erfolgreichsten Internet-Unternehmen der Welt, darunter Spieleanbieter, soziale Netzwerke, virtuelle Shoppingcenter und neuerdings auch Elektroautos.
Europäische Start-ups haben gegenüber ihren amerikanischen und chinesischen Wettbewerbern – neben dem fehlenden Geld – einen weiteren Nachteil: Sie müssen für jedes Land Europas neue Regeln beachten. Nur ein gemeinsamer europäischer Binnenmarkt für digitale Produkte, mit gleicher Regulierung und Datenschutzgesetzen im gesamten Euroraum, könne dieses Problem lösen, sagt Stefan Schaible, Deutschlandchef der Unternehmensberatung Roland Berger. Es wäre ein neues, digital gedachtes Europa.
Eine solche digitale Industriepolitik hätte sogar die Chance, Europa noch enger zusammenzubringen. Deutschland und seine Nachbarn könnten gemeinsam definieren, welche Bereiche der digitalen Wirtschaft besonders gefördert werden sollen – wie zum Beispiel China es tut. Zudem könnten sich Länder wie Frankreich und Deutschland zusammenschließen, um größere Fonds für die Technologiefinanzierung aufzulegen.
Gelingt eine solche Europäische Union für die digitale Zukunft nicht, stehen uns unangenehme Zeiten bevor. Denn immer deutlicher wird: Die Grenzen der Zukunft verlaufen nicht mehr nur zwischen politischen Systemen, zwischen Ost und West, zwischen Demokratien und Autokratien. Die neue Grenze verläuft zwischen Ländern, die in der rein industriell geprägten Welt verharren, und jenen, die sich aufmachen in die neue Zeit.
Aus der Geschichte weiß man, dass disruptive Veränderungen anfangs langsam verlaufen. Fast unsichtbar. Doch dann geht es plötzlich sehr schnell – wie der Einbruch der Verkäufe von Nokia-Telefonen in der Zeit nach dem Rekordjahr 2007 gezeigt hat.
Dieser Verlauf von Disruptionen macht die Entwicklung so gefährlich. Denn hat der Absturz erst einmal begonnen, weil das Geschäft von einem neuen Player durcheinandergewirbelt wurde, ist es meist zu spät.
Lassen wir Deutschen es nicht so weit kommen. Noch können wir den Nokia-Moment verhindern. Aber es ist nicht mehr viel Zeit.

Illustrationen: Mario Wagner

Sebastian Matthes

Künftiger Stellvertreter des Chefredakteurs und Head of Digital Handelsblatt

Als Sebastian Matthes sich 2013 in München auf den Stuhl des Chefredakteurs der Huffington Post Deutschland setzen durfte, hatte er bereits einige Jahre Erfahrung als Wirtschaftsjournalist im Gepäck. Seit ihrem Launch Ende 2013 hat er die Reichweite der HuffPost mit seinem Team erfolgreich auf- und ausgebaut. Im März 2017 kam das Online-Portal auf 24,9 Mio. Visits und hat sich in den vergangenen vier Jahren aus dem Nichts heraus in den Top 20 der Nachrichtenangebote im Web etabliert. Im Frühjahr 2018 wird Matthes als Stellvertreter des Chefredakteurs und Head of Digital zum Handelsblatt wechseln. Fasziniert war und ist er bis heute von der Frage, wie neue Technologien unseren Alltag, die Wirtschaft und die Politik verändern. Zu diesem Thema hat er in den vergangenen Jahren mehrfach mit eindrucksvollen Beiträgen Stellung genommen. Nebenbei spielt Matthes Geige, unter anderem im Neusser Kammerorchester.

Sebastian Matthes lieferte sich beim Innovationstag 2017 zum Thema „Journalismus zwischen Fake und Fakten“ ein unterhaltsames Wortgefecht mit Jürgen Kaube, einem der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, und GEO-Chefredakteur Dr. Christoph Kucklick.

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