Die Weltveränderungsillusion: Verfallen Sie nicht der „Große Männer“-Theorie
Wer oder was bringt die Menschheit in ihrer Entwicklung voran – sind es visionäre Persönlichkeiten wie Steve Jobs oder Elon Musk, die mit ihren innovativen Ideen den Wandel bewirken? Kann am Ende sogar jeder von uns die Welt verändern? Bestsellerautor Rolf Dobelli über menschlichen Einfluss und die Macht des Zufalls.
„Wir können die Welt verändern. Wir können sie verbessern. Es liegt in deiner Macht, es zu tun.“ (Nelson Mandela)
„Wer verrückt genug ist, zu glauben, er könne die Welt verändern, wird es tun.“ (Steve Jobs)
Das sind knisternde Sätze, die unsere Fantasie in Bewegung setzen. Sie verleihen uns das Gefühl von Bedeutung, Vitalität und Hoffnung.
Aber können wir die Welt wirklich verändern? Trotz der Weltuntergangsstimmung, die Zeitungen gerne heraufbeschwören (oder vielleicht gerade deswegen): Noch nie wurden Botschaften wie die obigen derart mantrahaft wiederholt wie heute. Noch nie wurde, was den Einfluss des Einzelnen betrifft, derart viel Optimismus verbreitet. Die Menschen des Mittelalters, der Antike oder der Steinzeit hätten die beiden Zitate wohl nicht mal verstanden. Für sie war die Welt, wie sie schon immer war. Wenn es zu Umbrüchen kam, dann waren es Könige, die Kriege anzettelten, oder verdrossene Götter, die sich mit Erdbeben rächten. Dass der einzelne Bürger, der einzelne Bauer, der einzelne Sklave die Welt hätte verändern können – so was Absurdes kam niemandem in den Sinn.
Ganz anders wir heutigen Erdenbewohner. Wir sehen uns nicht nur als Weltenbürger, sondern vielmehr als Weltenschmiede. Wir sind besessen von der Überzeugung, mit unseren Start-ups, Crowdfunding- und Charity-Projekten die Welt umpflügen zu können. Ganz so, wie es uns die fabelhaft erfolgreichen Firmengründer aus dem Silicon Valley oder die genialen Erfinder der Weltgeschichte vorgemacht haben. Unser Leben zu verändern, genügt nicht mehr, wir wollen die Welt verändern. Wir arbeiten für Organisationen, die sich diesem Ziel verschrieben haben, und sind – dankbar für dieses „Sinnangebot“ – bereit, zum halben Lohn zu arbeiten.
Dass der Einzelne die Welt verändern kann, ist eine der großen Ideologien unseres Jahrhunderts – und gleichzeitig eine grandiose Illusion. Zwei Denkfehler fließen hier ineinander. Zum einen die Fokussierungsillusion, die der Nobelpreisträger Daniel Kahneman so erklärt: „Nichts im Leben ist so wichtig, wie Sie denken, während Sie darüber nachdenken.“ Wenn Sie mit einer Lupe über eine Landkarte fahren, vergrößert sich der entsprechende Kartenausschnitt. Unsere Aufmerksamkeit wirkt wie eine Lupe. Wenn wir uns in unsere Weltveränderungsprojekte vertiefen, erscheint ihre Bedeutung viel größer, als sie in Wirklichkeit ist. Wir überschätzen systematisch die Wichtigkeit unserer Vorhaben.
Den zweiten Denkfehler nennt man Intentional Stance – ein Begriff, den der amerikanische Philosoph Daniel Dennett geprägt hat. Intentional Stance (auf Deutsch etwa Absichtsvermutung) bedeutet: Hinter jeder Veränderung vermuten wir Absicht – ganz gleich, ob wirklich Absicht dahintersteckt oder nicht. Wenn der Eiserne Vorhang fällt, wie 1989 geschehen, so muss jemand gezielt darauf hingearbeitet haben. Dass der Apartheid in Südafrika die Luft ausging, wäre ohne einen Vorkämpfer wie Nelson Mandela nicht möglich gewesen. Damit Indien die Unabhängigkeit erlangen konnte, brauchte es einen wie Gandhi. Für Smartphones brauchte es Steve Jobs. Ohne Oppenheimer keine Atombombe. Ohne Einstein keine Relativitätstheorie. Ohne Benz kein Automobil. Ohne Tim Berners-Lee kein World Wide Web. Hinter jeder Weltveränderung vermuten wir jemanden, dessen Willen es war, der Welt genau diese Veränderung zu liefern.
Diese Vermutung einer Absicht hinter den Entwicklungen stammt aus unserer evolutionären Vergangenheit. Lieber einmal zu viel an Absicht glauben als einmal zu wenig. Wenn es im Gebüsch raschelt, lieber einen hungrigen Säbelzahntiger oder einen feindlichen Krieger vermuten als den Wind. Sicher gab es auch Menschen, die regelmäßig den Wind vermuteten – die konnten sich in 99 % der Fälle zwar die Kalorien fürs Davonrennen sparen, wurden aber irgendwann jäh und unschön aus dem Genpool entfernt. Wir heutigen Menschen sind die biologischen Nachfolger jener Hominiden mit hyperaktiver Absichtsvermutung. Diese ist fest in unseren Hirnen verdrahtet. Daher sehen wir Absicht und handelnde Agenten auch dort, wo es keine gibt. Doch wie könnte so etwas wie die Auflösung der Apartheid ohne Nelson Mandela in Gang gekommen sein? Wie könnte jemand anderes als der Visionär Steve Jobs so etwas wie ein iPhone konzipieren?
Die Absichtsvermutung führt dazu, dass wir die Weltgeschichte als Geschichte der „großen Männer“ (es waren leider hauptsächlich Männer) interpretieren. In seinem Buch The Evolution of Everything räumt der geniale britische Autor und Politiker Matt Ridley radikal mit der „Große Männer“-Theorie auf: „Wir tendieren dazu, zu viel Lob über jene clevere Person zu schütten, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort war.“ Das wussten schon die Aufklärer. Montesquieu schrieb: „Martin Luther wird für die Reformation verantwortlich gemacht … Aber sie musste geschehen. Wäre es nicht Luther gewesen, dann ein anderer.“
Um 1500 unterwarf eine Handvoll portugiesischer und spanischer Eroberer ganz Mittel- und Südamerika. Die Weltreiche der Azteken, der Maya und der Inka kollabierten innerhalb kürzester Zeit. Warum? Nicht, weil „große Männer“ wie Cortés besonders schlau oder begabt waren, sondern weil diese tollkühnen Abenteurer unwissentlich Krankheiten aus Europa einschleppten, gegen die sie selbst immun waren, die sich aber für die Eingeborenen als tödlich erwiesen. Viren und Bakterien sind der Grund, weshalb ein halber Kontinent heute Spanisch oder Portugiesisch spricht und einen katholischen Gott anbetet.
Doch wenn es nicht die „großen Männer“ waren, wer hat dann die Weltgeschichte geschrieben? Antwort: niemand. Das Zeitgeschehen ist ein Zufallsprodukt unendlich vieler Strömungen und Einflüsse. Es funktioniert eher wie Straßenverkehr als ein Auto. Niemand dirigiert es. Die Weltgeschichte ist fundamental regellos, zufällig und nicht prognostizierbar. Wenn Sie ausgiebig historische Dokumente studieren, werden Sie feststellen, dass alle großen Veränderungen etwas Zufälliges haben. Und Sie werden verstehen, dass auch die herausragenden Figuren der Weltgeschichte Marionetten des Zeitgeschehens waren. Es gehört zum guten Leben, keine „großen Männer“ zu verehren – und nicht der Illusion anzuhängen, man könne selbst einer sein.
Sie mögen einwenden: Aber einige „große Männer“ gab es doch – manche haben die Geschicke ganzer Kontinente geprägt! Ein Beispiel dafür wäre Deng Xiaoping. Er führte in China 1978 die Marktwirtschaft ein und befreite dadurch mehrere hundert Millionen Menschen aus der Armut – das erfolgreichste Entwicklungsprojekt aller Zeiten. Ohne Deng Xiaoping wäre China heute keine Weltmacht.
Wirklich nicht? Die Analyse des britischen Autors Matt Ridley zeigt ein anderes Bild. Die Einführung der Marktwirtschaft war keine Absicht von Deng Xiaoping. Sie war eine Entwicklung von unten. In dem abgelegenen Dorf Xiaogang beschlossen 18 verzweifelte Bauern, das staatliche Land unter sich aufzuteilen. Jeder sollte für sich produzieren können. Nur mit diesem kriminellen Akt, glaubten sie, würden sie genug aus dem Land herausholen können, um ihre Familien zu ernähren. Tatsächlich produzierten sie schon im ersten Jahr mehr als in den vergangenen fünf Jahren zusammen. Die üppige Ernte weckte die Aufmerksamkeit des lokalen Parteifunktionärs. Dieser schlug vor, das Experiment auf andere Farmen auszuweiten. Eventuell landete das Papier in den Händen von Deng Xiaoping, der entschied, den Versuch weiterlaufen zu lassen. Ein weniger pragmatischer Parteichef als Deng „hätte vielleicht die Landreform verzögert, aber sie wäre sicher früher oder später gekommen“, schreibt Ridley.
Mag sein, denken Sie vielleicht, aber Ausnahmen gibt es doch: ohne Gutenberg keine Bücher. Ohne Edison keine Glühbirne. Ohne die Gebrüder Wright keine Ferienflüge.
Auch das stimmt nicht, auch diese Männer sind reine Figuren ihrer Zeit. Wenn es Gutenberg nicht gelungen wäre, hätte ein anderer den Buchdruck entwickelt – oder die Technologie hätte früher oder später den Weg von China (wo man sie längst kannte) nach Europa gefunden. Genauso mit der Glühbirne: Nach der Entdeckung der Elektrizität war es nur noch eine Frage der Zeit, bis das erste künstliche Licht anging. Und es ging nicht mal zuerst im Hause Edison an: 23 andere Tüftler brachten nachweislich vor ihm Drähte zum Leuchten. Ridley: „Trotz all seiner Brillanz war Thomas Edison komplett unnötig. Nehmen Sie die Tatsache, dass Elisha Gray und Alexander Graham Bell den Patentantrag für die Erfindung des Telefons am gleichen Tag einreichten. Angenommen, einer der beiden wäre auf dem Weg zum Patentamt von einem Pferd zu Tode getrampelt worden – die Welt wäre heute dieselbe.“ Entsprechend waren auch die Gebrüder Wright nur ein Team von weltweit vielen, die Segelflugzeuge mit einem Motoraufsatz kombinierten. Hätte es die Wrights nie gegeben, hieße das nicht, dass Sie heute die Fähre nach Mallorca nehmen müssten. Jemand anders hätte die Motorfliegerei entwickelt. Dasselbe gilt für fast alle Erfindungen und Entdeckungen. „Technologie findet seine Erfinder“, beweist Ridley, „nicht andersrum.“
Selbst hochwissenschaftliche Durchbrüche sind personenunabhängig. Sobald Messinstrumente die nötige Präzision aufweisen, kommen die Entdeckungen früher oder später von selbst. Das ist der Fluch in der Wissenschaft: Der einzelne Forscher ist im Grunde irrelevant. Alles, was es zu entdecken gibt, wird von irgendjemandem irgendwann einmal entdeckt.
Das Gleiche gilt für Unternehmer und Wirtschaftskapitäne. Als die sogenannten Homecomputer in den 1980-Jahren auf den Markt drängten, war es zwingend notwendig, dass irgendjemand ein Betriebssystem dafür entwickeln würde. Zufällig war dieser Jemand Bill Gates. Vielleicht wäre jemand anderem nicht derselbe unternehmerische Erfolg beschieden gewesen, aber wir hätten heute ähnliche Software-Lösungen. Vielleicht würde unser Smartphone heute ohne Steve Jobs etwas weniger elegant aussehen, aber funktionieren würde es ähnlich.
In meinem Freundeskreis finden sich einige CEOs. Manche führen Großkonzerne mit 100.000 Mitarbeitern. Sie nehmen ihren Job ernst, arbeiten teilweise bis zur Erschöpfung und kassieren dafür ordentlich ab. Und doch sind sie im Grunde austauschbar. Schon wenige Jahre nach ihrem Ausscheiden erinnert sich niemand mehr an ihren Namen. Sicherlich hatten riesige Firmen wie General Electric, Siemens oder Volkswagen einst hervorragende CEOs. Doch wer kennt heute noch ihre Namen? Sie sind nicht nur austauschbar, auch die herausragenden Ergebnisse ihrer Firmen hängen weniger von ihren Entscheidungen ab als von der zufälligen Entwicklung des gesamten Marktes. Warren Buffett drückt es so aus: „Ein gutes Geschäftsergebnis ist viel stärker von dem Boot abhängig, in dem Sie sitzen, als von der Effizienz, mit der Sie rudern.“ Noch krasser sieht es Matt Ridley: „Die meisten CEOs sind Trittbrettfahrer, gut bezahlt, um auf der Welle zu surfen, die ihre Mitarbeiter in Bewegung gesetzt haben … Die Illusion, sie seien feudale Könige, wird von den Medien aufrechterhalten. Aber sie ist ein Trugbild.“
Mandela, Jobs, Gorbatschow oder Gandhi, Luther, die Erfinder und die großen CEOs waren Kinder ihrer Zeit, und nicht deren Eltern. Natürlich haben sie wesentliche Prozesse mit ihrer jeweils eigenen Taktik gesteuert, aber wenn es nicht sie gewesen wären, so hätten es andere Menschen ähnlich getan. Wir sollten also zurückhaltend sein, wenn es darum geht, „große Männer“ oder „große Frauen“ auf den Sockel zu heben – und bescheiden bleiben, wenn es um uns selbst geht.
So außergewöhnlich Ihre Leistungen auch sein mögen, die Wahrheit ist: Es ginge auch ohne Sie. Ihr persönlicher Einfluss auf die Welt ist ameisenhaft. Ganz egal, wie genial Sie sind – als Unternehmer, als Forscherin, als CEO, als General oder Präsidentin –, im großen Weltgefüge sind Sie bedeutungslos, unnötig und austauschbar. Der einzige Ort, wo Sie wirklich eine entscheidende Rolle spielen, ist Ihr eigenes Leben. Konzentrieren Sie sich darauf, auf Ihr eigenes Umfeld. Sie werden sehen: Ihr Leben in den Griff zu bekommen, ist ambitiös genug. Warum sich anmaßen, die Welt zu verändern? Sparen Sie sich diese Enttäuschung.
Klar, vielleicht wirbelt Sie der Zufall von Zeit zu Zeit in eine Position großer Verantwortung hinein. Dann spielen Sie die Ihnen zugewiesene Rolle mit Meisterschaft. Seien Sie der beste Unternehmer, die weiseste Politikerin, der fähigste CEO und die genialste Forscherin, die Sie sein können. Aber erliegen Sie nicht dem Irrtum, die ganze Menschheit habe auf Sie gewartet
Ich bezweifle keinen Augenblick, dass meine Bücher wie Steine im Ozean des Weltgeschehens untergehen werden. Nach meinem Tod werden wohl meine Söhne noch eine Weile von mir sprechen. Hoffentlich auch meine Frau. Vielleicht sogar noch meine Enkelkinder. Dann ist Schluss, dann wird Rolf Dobelli vergessen sein – und genau so soll es auch sein. Sich nicht allzu wichtig zu nehmen ist eine der wertvollsten Strategien für ein gutes Leben.
Auszug aus Rolf Dobelli: „Die Kunst des guten Lebens“
Rolf Dobelli
Schriftsteller und Unternehmer
Rolf Dobelli, Philosoph und promovierter Betriebswirt, war CEO verschiedener Tochtergesellschaften der Swissair-Gruppe und gründete zusammen mit Freunden die Firma getAbstract, den weltgrößten Anbieter von komprimierter Wirtschaftsliteratur. Er ist Gründer und Intendant von WORLD.MINDS, einer Community von weltweit führenden Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kultur und Wirtschaft. Der gebürtige Luzerner schreibt Romane und Sachbücher, darunter die Bestseller „Die Kunst des klaren Denkens“, „Die Kunst des klugen Handelns“ sowie „Die Kunst des guten Lebens“, die international eine Millionenauflage erreichten und in mehr als 40 Sprachen übersetzt wurden. Der begehrte Gastautor und Keynote Speaker lebte in Hongkong, Australien, England und viele Jahre in den USA. Heute ist er mit seiner Frau, der Schriftstellerin Clara Maria Bagus, und den gemeinsamen Zwillingssöhnen in Bern zu Hause.
Rolf Dobelli inspirierte die Gäste der „CMO of the Year“-Gala 2017 in der Alten Bayerischen Staatsbank mit seiner Keynote zum Thema „Die Kunst des klugen Handelns“.