Was macht eigentlich ein Experience Strategist?

Berufsbilder bei Serviceplan

Buchungsplattformen, Navis, Dating Apps, Geldautomaten: Jeden Tag bedienen und nutzen wir digitale Systeme. Wenn die Anwendung reibungslos funktioniert, machen wir uns darüber keine Gedanken. Wenn wir uns aber in einer unübersichtlichen Benutzerführung verlieren, dann liegen beim User die Nerven blank – und der Anbieter hat ein Imageproblem. Mit einer professionellen User-Experience-Strategie werden gesicherte Erkenntnisse über Nutzererwartung, -wahrnehmung und -verhalten gezielt eingesetzt, um reibungslose und damit erfreuliche Anwendungserlebnisse sicherzustellen und damit den wiederholten Gebrauch attraktiv zu machen. Wir haben unseren Profi Mathias Becker, Director Experience Strategy bei Plan.Net UX, eingehend zu dem Thema befragt.

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  • Ich stelle mir einen Experience Strategist wie einen Interessenvertreter des Users zwischen Konzeption und Gestaltung vor: Der Konzepter hat eine clevere Idee, der Designer sorgt für eine fancy Anmutung und der Experience Strategist passt auf, dass der User auf elegantestem Wege zu dem Ergebnis kommt, das er sich von der Anwendung erwartet. Im besten Falle ist er dann noch angenehm überrascht von einem ansprechenden Design. Wie siehst du das?

    Das trifft es schon ziemlich gut. Wobei: Du hast das Design an den Schluss gesetzt, das klang ein bisschen untergeordnet. Tatsächlich ist die Bedeutung eines ansprechenden Designs in letzter Zeit wieder gestiegen. Was enorm zugenommen hat, ist die Fülle an Apps und sonstigen interaktiven digitalen Angeboten. Und damit sind auch die Ansprüche der User an die Gestaltung gestiegen. Was schwer zu bedienen ist, unübersichtlich oder einfach nur unschön aussieht, nimmt der User schlichtweg nicht an. Das muss er auch nicht, denn er kann es sich leisten, aus der Fülle der Angebote das zu wählen, womit er sich wohlfühlt. Design zu vernachlässigen wäre ein großer Fehler. Auch einen anderen Punkt möchte ich noch etwas ergänzen: Ja, wir sind Interessenvertreter des Users, das ist vollkommen richtig. Aber wir sind auch Interessenvertreter der Marke, für die wir das jeweilige digitale Produkt erstellen. Das heißt, das Produkt muss sich nicht nur gut anfühlen, sondern es muss sich auch unverkennbar nach Coca-Cola oder nach BMW anfühlen. Die User Experience und damit das Markenerlebnis im Umgang mit unserem Produkt wird von mehr Faktoren bestimmt als nur vom Erscheinungsbild mit Logo und Claim. Wie sehen Animationen aus, wie sind Fehlermeldungen geschrieben, wie einfach und verständlich sind Inhalte und Zusammenhänge dargestellt, die eigentlich komplex sind? Das ist alles relevant fürs Branding.

  • Wie wird man eigentlich Experience Strategist?

    Beim Experience Strategist ist es wie bei vielen neuen Berufen in der digitalen Welt: Es gibt nicht den einen vorgezeichneten und erfolgversprechenden Weg, bei dem man schon beim Start das Ziel vor Augen hat. Ich habe eine Ausbildung zum Mediengestalter mit Ausrichtung auf Webentwicklung gemacht und hab dann auch jahrelang als Webentwickler gearbeitet. Dann habe ich mich vermehrt mit Konzeption befasst, also mit der theoretischen und strukturierten Aufbereitung von Ideen und Anforderungen als eine Instanz, die der durchführenden Entwicklung vorgelagert ist. Ich habe Konzeptteams aufgebaut und war technischer Consultant für einen Partner in den USA. Als ich dann zu Serviceplan kam, habe ich mich wieder vermehrt mit Konzeption befasst, aber auch digitale Transformation vorangetrieben. Aber zurück zur Konzeption: Irgendwann stellt man sich strategische Fragen wie die, ob man denn Konzeption so machen sollte, wie man es gerade macht. Gehen wir mit den richtigen Annahmen in die Konzeptarbeit? Folgerichtig bin ich dann bei der Rolle des Experience Strategist angekommen. So war’s bei mir, aber es gibt unzählige andere Wege. Von einem standardisierten Ausbildungsweg zum Experience Strategist ist mir jedenfalls nichts bekannt; ich glaube, das gibt’s gar nicht.

  • Wie stellt ein Experience Strategist fest, dass er gut gearbeitet hat?

    Wir vergleichen das Ergebnis mit dem Ziel, das wir zu Beginn des Projektes bestimmt haben, und legen bei der Bewertung Leistungswerte zugrunde, die ebenfalls schon bei Projektbeginn feststanden. Die Leistungswerte ermitteln wir z. B., indem wir User-Interaktionen speichern und auswerten. Auf Basis von A/B-Testings, indem das User-Verhalten in der Anwendung einer bestehenden mit einer neuen Version verglichen wird. Außerdem tauschen wir uns ganz persönlich mit Testanwendern aus, die wir zu uns einladen. Oder auch zu unseren Kunden, wo Testszenarien mit Prototypen aufgebaut sind. Wir haben also eine ganze Menge Tools, die uns ganz objektiv Informationen bereitstellen, aus denen wir die Qualität unserer Produkte ableiten können. Und dann gibt’s wieder eine neue Version. Wir erstellen dauernd Prototypen, lassen diese testen und optimieren anschließend.

  • Wird ein Experience Strategist auch mal vom DAU (Fachslang für „dümmster anzunehmender User“) überrascht? Zum Beispiel, indem dieser macht, was außerhalb der Vorstellungswelt eines Profis ist?

    Allerdings! Tatsächlich sind uns in der Entwicklungsphase die User am liebsten, die mit dem Produkt machen, worauf niemand von uns jemals gekommen wäre. Nur ein Beispiel: Jemand sucht einen Button mit einer bestimmten Funktion unten rechts, obwohl der sich logischerweise oben links befindet. Auf den ersten Blick denken alle im Team das Gleiche: Das gibt’s doch nicht! Wie kommt der darauf? Das ist vollkommen unlogisch! Und dennoch liefert uns der User eine schlüssige Erklärung für sein vermeintlich unlogisches Verhalten und wir berücksichtigen sein Feedback in der Weiterentwicklung. Aber ganz im Ernst: Streng genommen gibt es den DAU gar nicht.

  • Muss ein Experience Strategist auch Kompromisse vorschlagen? Zum Beispiel, wenn eine große Publikumsanwendung verschiedene Nutzergruppen mit unterschiedlichen Bedürfnissen anspricht. Etwa ein Fahrkartenautomat, der ältere Menschen mit geringer und jüngere mit hoher Affinität zu digitalen Anwendungen zufriedenstellen muss.

    Das kommt schon vor, dass man Kompromisse machen muss. Aber beim Fahrkartenautomaten ist auf jeden Fall der Anspruch, dass er auch für ältere Menschen mit geringerer Affinität zu digitalen Benutzeroberflächen bedienbar sein muss. Und natürlich wird eine einfache Bedienbarkeit bei einer optisch übersichtlichen und sogar für sehschwache Menschen gut erkennbaren, kontrastreichen und damit möglichst barrierefreien Darstellung auch User mit höherer Digitalaffinität nicht langweilen oder gar abschrecken.

  • Welche besonderen Begabungen brauchst du für deinen Beruf?

    Skepsis ist wichtig. Ein gesunder Zweifel daran, dass der User das schon kapieren wird. Auf der anderen Seite natürlich Offenheit: Man muss auch mal neue, ungelernte Oberflächen anbieten mit der Zuversicht, dass der User sich darauf einlässt. Das kann ein notwendiger Ausdruck von Innovation sein – und Innovation ist immer ungewohnt, sonst wär’s ja keine. Skepsis und Offenheit stehen auf den ersten Blick im Widerspruch zueinander, ergänzen sich aber auch. Und ein gewisses Maß an Naivität ist gut, sich also nicht von vermeintlicher Vernunft behindern lassen, die einem sagen müsste: „Ein Telefon, das man bedient, indem man mit seinem Zeigefinger auf einer Glasplatte herumwischt? Was für ein Quatsch!“ Aber das iPhone ist kein Quatsch, sondern hat die Art der digitalen Kommunikation ganz entscheidend beeinflusst. Kommunizieren und diskutieren sollte man in diesem Beruf können und wollen. Denn wir haben täglich mit unendlich vielen Möglichkeiten zu tun, und jede mögliche Lösung hat ihre Vorzüge und ihre Berechtigung. Und dann ist Pragmatismus gefragt: die Bereitschaft, im richtigen Moment eine Entscheidung zu treffen, damit man sich nicht in endlosen Diskussionen verliert.

  • Man benötigt ja sicherlich auch viel Einfühlungsvermögen, um sich in die jeweilige Zielgruppe hineinzuversetzen.

    Klar, Empathie ist enorm wichtig und absolute Voraussetzung für jeden, der in der Produktkreation arbeitet. Ein übliches Verfahren zum Start eines Projektes ist dann auch die Entwicklung von Personas, also von fiktiven User-Profilen. Und dann fragen und beantworten wir hypothetisch: Wie würde diese Persona das Produkt anwenden? Was würde sie suchen – und würde sie es auch finden? Einer Persona würden wir z. B. die Charaktereigenschaft „Skeptiker“ zuweisen. Eine Annahme könnte dann sein: „Dieser User würde jetzt nicht weiterklicken, denn ihm fehlt eine wichtige Information.“ Wenn wir in diesem Anwendungsszenario dann diese Information anbieten, dürfen wir davon ausgehen, dass auch der Skeptiker der Anwendung weiter folgt, etwa weil er die Gewissheit hat, dass ein Klick auf den „Weiter“-Button noch keine kostenpflichtige Buchung auslöst.

  • Wie sieht der typische Alltag eines Experience Strategist aus?

    Zur Routine gehört es auf jeden Fall, aktiv zu beobachten, was es Neues gibt. Neue Medien oder Anwendungen beispielsweise oder neue Formen der Nutzung dieser Medien oder Anwendungen. Wie gehen Teenager mit Snapchat oder Musical.ly (mittlerweile TikTok) um? Warum verbringen Leute sechs Stunden am Tag auf Instagram und was machen die da? Außerdem die enge Zusammenarbeit mit dem Team, in der sichergestellt wird, dass Lösungsansätze zu der bereits beschlossenen Strategie passen. Das bedeutet, dass man viel erklärt, herleitet und diskutiert – mit dem Team und mit dem Kunden.

  • Ihr entwickelt doch bestimmt auch selbst innovative User Interfaces, oder?

    Selbstverständlich, Innovation ist natürlich ein großes Thema. Das fängt schon mit Forschung an, die wir auch betreiben, indem wir z. B. beobachten, wie User Sprachassistenten anwenden und wie sie das tun würden, wenn künftige Produktgenerationen auf sie zukämen. Und natürlich die Bedeutung von Trends wie Augmented Reality, Mixed Reality und Extended Reality. Wir beschäftigen uns laufend damit, wie wir da für User am meisten rausholen können. Und natürlich Artificial Intelligence, also KI, was ja von großen Playern wie Apple, Google, etc. extrem vorangetrieben wird. Viele User, die z. B. mit Chat-Robotern kommunizieren, würden diese als Menschen annehmen, wenn man ihnen nicht sagt, dass das im Grunde ein Algorithmus ist. Wir befassen uns etwa mit der grundsätzlichen Frage, ob, wie und unter welchen Umständen man den User darüber aufklären sollte. Und um auf diese Fragen Antworten zu bekommen, bauen wir wieder Prototypen.

  • Welche Trends werden Experience Strategists in absehbarer Zukunft vielleicht vor ganz neue Aufgaben stellen? Über künstliche Intelligenz von Chat-Robotern und dergleichen haben wir schon gesprochen. Aber da kommt ja noch mehr auf uns zu.

    Allerdings. Künstliche Intelligenz beispielsweise führt zu einer enormen Zunahme von Komplexität, das gilt sowohl für Entwickler wie auch für Anwender. Auch wenn ein Produkt komplex erscheint, weil es ungeheuer viel kann, soll es sich einfach anfühlen und zu bedienen sein.

  • Das klingt ja so, als würde der Beruf des Experience Strategist enorm an Bedeutung gewinnen.

    Absolut, die Bedeutung als solche wird zunehmen, und es werden schlichtweg viel mehr Experience Strategists, aber auch Experience Designer gebraucht werden. Das ist sicher. Denn die Fülle von Produkten und Anwendungsbereichen wird ebenfalls noch größer werden. Aber auch bestehende Systeme sind zum Teil stark verbesserungsbedürftig. Es gibt immer noch Leute, die an Geld- oder Fahrkartenautomaten verzweifeln. Da muss das Produkt auf den User zugehen und nicht umgekehrt. Eine weitere Dimension ist die Globalisierung: Wenn wir die optimale Lösung für Anwender in entwickelten Industriegesellschaften gefunden haben, heißt das noch lange nicht, dass diese Lösung auch in ganz anderen Kultur- oder Sprachräumen funktioniert. Da wäre also ganz viel Vermittlungsarbeit in beide Richtungen zu leisten.

  • Es werden also immer mehr Experten auf diesem Gebiet benötigt, gleichzeitig nimmt deine persönliche Expertise laufend zu. Bist du auch bereit, junge Leute auszubilden?

    Unbedingt! Das machen wir ja auch schon. Wir kooperieren außerdem mit verschiedenen Hochschulen und klären Studenten über dieses spannende Feld und seine Chancen auf. Dann freut es uns natürlich, wenn jemand unserer Einladung folgt, sich das in der Praxis anzusehen. Wenn wir ihn oder sie dann für diesen Beruf und als Praktikant gewinnen können, ist das natürlich für beide Seiten toll.

  • Lieber Mathias, vielen Dank für das interessante Gespräch!

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