Es ist wie die Wahl zwischen Pest oder Cholera: Kannibalisiert Google mit Gemini sein eigenes höchst ertragreiches Geschäft mit der Suchmaschinenwerbung oder verliert es lieber bei der KI an Boden? Klar ist jedenfalls, der massive Wettbewerb generativer KI gefährdet Googles Geschäftsmodell und zwingt den Giganten zur Disruption.
Das erfolgreichste Geschäftsmodell der digitalen Wirtschaft – mit einem Volumen von rund 300 Milliarden US-Dollar weltweit – steht unter Druck: die Suchmaschinenwerbung. Vielleicht werden wir sogar Zeugen einer Disruption. Denn Künstliche Intelligenz führt dazu, dass die Online-Suchmaschinen, wie wir sie bisher kennen, mit großer Wahrscheinlichkeit künftig von Antwortmaschinen abgelöst werden. Natürlich nicht sofort, aber möglicherweise schleichend. Zum ersten Mal ist der Such-Algorithmus nicht mehr so überlegen, dass Google seine Wettbewerber automatisch abgehängt. Im Gegenteil: Google selbst ist mit der zentralen Frage konfrontiert, inwieweit es dem eigenen Geschäftsmodell Konkurrenz machen will, um zukunftsfähig zu bleiben.
Wie schnell die Entwicklung kommt und ob KI-Assistenten ihren Siegeszug antreten, hängt von den Nutzer:innen ab, aber auch von der Qualität der Antwortmaschinen. ChatGPT, Google Gemini, Microsofts Copilot & Co. funktionieren heute schon, allerdings nach völlig intransparenten Kriterien. Aus Sicht der Marketeers bedeutet das: Produkte und Marken wissen nicht, warum oder ob sie in den Antworten gelistet werden. Und User:innen wissen nicht, warum ihnen die KI welche Empfehlung gibt.
Analysiert man das Thema detaillierter, gibt es mindestens drei relevante Perspektiven:
- Die Perspektive der User:innen
Aus Sicht der Verwender:innen ist eine Antwortmaschine komfortabler als eine Suchmaschine. Zum einen muss man die Frage nicht mehr eintippen. Man kann sie auch einsprechen. Die Antwort kommt dann per Sprachausgabe. Sie ist aber auch deutlich reduzierter in ihren Empfehlungen. Spuckt die Suchmaschine noch seitenweise Treffer aus, beschränkt sich die Antwortmaschine auf wenige Treffer.
Und hier beginnt das erste Dilemma: Warum empfiehlt die KI-gestützte Antwortmaschine Produkt A und nicht Produkt B, mit dem die Userin bisher bessere Erfahrungen gemacht hat? Warum listet sie das teurere Produkt und nicht die billigere Variante? Warum sind eher amerikanische oder internationale Produkte und Marken aufgeführt und weniger oder gar keine nationalen und regionalen?
Alles Fragen, für die es im Augenblick keine Klärung gibt. Warum die Systeme welche Antworten geben (und auf welcher Recherchegrundlage) ist weitgehend intransparent.
Ein konkretes Beispiel. Wir füttern vier KIs (Bings Copilot, ChatGPT 4.0 von Open AI, Googles Gemini und Perplexity.ai) mit folgendem Prompt: „Ich möchte mir ein Elektroauto kaufen. Es soll eine Reichweite von mindestens 300 Kilometer pro Ladung haben, für vier Personen Platz bieten und nicht mehr als 55.000 € als Neuwagen kosten. Außerdem sollte es möglichst schnelle Ladezeiten aufweisen.“
Das Ergebnis: Die KIs empfehlen jeweils 4 (Bing und Perplexity) bzw. 5 Automodelle (Gemini und ChatGPT). Nur ein Modell, der Hyundai Kona Electric, taucht in allen vier KI-Listen auf. Der KIA e-Niro wird immerhin dreimal gelistet, jeweils zwei Listen empfehlen den Skoda Enyag iV und den VW ID3 bzw. das Model 3 von Tesla. Auf eine Erwähnung kommen der VW ID 4, der BMWiX, der Lucid Air, der Renault Zoe und der Citroen eC4.
Unabhängig von der Qualität der Empfehlungen (manche Modelle erfüllen die Kriterien aus dem Prompt nicht) zeigt sich: Nur Copilot von Bing und Perplexity.ai listen die Quellen für ihre Empfehlungen auf. Für die User:innen ist es bei zwei der vier KIs nicht möglich, die Herkunft der Information zu überprüfen.
Was bedeutet dies nun für die Nutzer:innen? Die Komplexität sinkt bei den Antwortmaschinen, jedoch zu Lasten der Qualität und Transparenz. Das wird bei allgemeinen und einfacheren Fragen wahrscheinlich nicht ins Gewicht fallen, aber bei komplexeren Suchen eher dazu führen, dass diese wohl auch mittelfristig weiter mit klassischen Suchmaschinen gelöst werden.
- Die Perspektive der Unternehmen/Marken/Werbetreibenden
Umgekehrt ist es aber auch für die Hersteller in unserem konkreten Beispiel nicht nachzuvollziehen, warum welche Modelle gelistet sind und andere nicht. Die Auswahl bei dem eher generischen Elektroauto-Prompt (s.o.) hätte auch ganz anders ausfallen können.
In der bisherigen Logik der Suchmaschinen haben sich mit SEO (Suchmaschinenoptimierung) und SEA (Suchmaschinenmarketing) zwei Disziplinen etabliert, bei denen die Spielregeln zumindest halbwegs transparent waren und sind. Für Werbungtreibende und Marken ist bei den KI-Systemen bisher nicht nachzuvollziehen, warum sie bei den auf 4 bis 5 reduzierten Empfehlungen der Antwortmaschinen zum Zug kommen oder warum nicht.
Google hatte jüngst auf seinem „Google Marketing Live“- Event angekündigt, dass sich Werbungtreibende wohl künftig auch in die KI-Übersichten einkaufen können. Während bei der aktuellen bezahlten Suche, der Einkaufsmodus für Paid Search weitgehend klar ist, gibt es für die KI-Übersichten noch kein bekanntes Procedere. Eile und Transparenz ist auch deshalb geboten, weil die Systeme (siehe Praxisbeispiel) ja bereits Antworten ausgeben.
Und hier wird es schon sehr spannend zu erfahren, wie eventuell eingebettete Werbung zum einen aussehen wird und zum anderen von den Nutzer:innen akzeptiert wird. Denn Menschen stellen eben oft eine klare Frage, die sie exakt beantwortet haben möchten. Was sie nicht möchten, sind 100 mögliche Shoppingergebnisse noch Antworten, bei denen sie nicht genau wissen, ob sie organisch oder bezahlt sind. Sie wollen eine Antwort und nicht „Radio Eriwan“: „Im Prinzip ist die Antwort so, aber…“
- Google, Microsoft & Co.
Und zu guter Letzt ist dies die Disruption für die Schöpfer der Systeme:- Open AI hat mit ChatGPT Google vor die Entscheidung gestellt: Kannibalisiert Google mit Gemini sein eigenes höchst ertragreiches Geschäft mit der Suchmaschinenwerbung oder verliert es lieber bei der KI an Boden? Die jetzt vorgestellten KI-Übersichten bei Gemini lassen vermuten, dass Google eine möglichst sanfte Eigenkannibalisierung anstrebt. Allerdings trifft der Search-Platzhirsch dabei im Markt u.a. auf Microsoft, die einerseits Großaktionär bei Open AI sind, anderseits mit der Integration des Copiloten weit jenseits des Browsers Bing aktiv sein können. Und auf den Wettbewerber Open AI, der keinerlei Rücksicht auf die bestehende Onlinesuche nehmen muss. Fun fact: die Listen von Bings Copilot und ChatGPT 4o unterscheiden sich beim Praxisbeispiel deutlich.
Fast jeder Zweite (43,4 %) besitzt inzwischen einen Account bei einem KI-Dienst, so eine repräsentativen Studie der Convios Consulting GmbH im Auftrag von GMX und WEB.DE. Spaß und Zeitvertreib sind dabei der häufigste Grund für den KI-Einsatz (39,7 %), gefolgt von Recherche mit 38,9 Prozent. Aktuell dürfte der Wert bereits deutlich höher liegen. Die Akzeptanz der Antwortmaschinen auf Nutzerseite wird darüber entscheiden, wie schnell sich Marktanteile aus der Suchmaschinenwerbung von Google zu insbesondere Microsoft und Open AI verlagern.
Ich glaube, dass diese aktuelle Entwicklung unsere Branchendiskussion mindestens der nächsten zwei Jahre prägen kann, und dass der Markt der Suche sich signifikant verändern wird.
Die Antwortmaschinen sind ein wichtiges übergreifendes Marktthema. Deshalb sind unsere Branchenverbände gefordert: der BVDW für Digitalagenturen ,Dienstleister, Publisher und auch Werbetreibende (Retail Media), der OWM für alle Werbetreibenden und natürlich auch andere Marktpartner und Regulierer (Kartellamt & Co.). Wir brauchen dringend mehr Transparenz, nach welchen Regeln die Antwortmaschinen spielen. Es ist Zeit für offene Diskussionen zwischen den Marktpartnern, Zeit für Rahmenbedingungen, für Whitepaper oder Code of Conducts, die allen die Sicherheit geben, was sie von KI erwarten können und welche Grenzen einzuhalten sind. Die Verbände sind die richtige und hierfür genau die beste Plattform, diese Diskussion zu moderieren und auch gegenüber der Politik zu begleiten.
Lassen wir nicht zu viel Zeit verstreichen. Die Systeme laufen bereits. Und fragen Sie mal ihre Bubble, wie oft sie schon produktbezogene Fragen an eine KI gestellt haben. Sie werden überrascht sein. Meine Kollegin hat gerade ihren Portugal-Urlaub mit ChatGPT 4o geplant.