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Den Volksparteien der alten Bundesrepublik laufen die Wähler davon. Die Ursachen reichen weit über die Flüchtlingskrise hinaus.

Die Landtagswahl in Bayern steht wie keine zweite bisherige Wahl in Deutschland für den Abschied von vertrauten Machtkonstellationen. Während bisher der Aufstieg der Rechtspopulisten alle öffentliche Aufmerksamkeit nach Wahltagen auf sich zog, ist in Bayern weit mehr in Bewegung: CSU und SPD verlieren drastisch, Grüne und Freie Wähler gewinnen strategisches Gewicht.

Die gesellschaftlichen Veränderungen hinter dieser Machtverschiebung sind lange bekannt. Und sie sind weit älter als die Flüchtlingskrise 2015.

Neue und alte Mitte

Die Soziologie lehrt, dass die soziale Schichtung der Alt-Bundesrepublik mit ihrer nivellierten Mittelstandsgesellschaft seit den 80ern hinfällig ist. Mit der Verdrängung industrieller Arbeit gewannen anspruchsvolle Wissensökonomien und weniger anspruchsvolle Dienstleistungen erheblich an Bedeutung, abrupter noch als in der alten Bundesrepublik in den neuen Ländern. Im Ergebnis sank der Anteil von Menschen in tarifvertraglichen Arbeitsverhältnissen, die Spreizung der Einkommen stieg. Die Gesellschaft verlor an kultureller Homogenität, viele Menschen ihre überkommene Selbsteinordnung im sozialen Gefüge.

Die ehemals quantitativ wie kulturell dominierende Mittelklasse wurde abgegrenzt von einer neuen, überdurchschnittlich akademisch ausgebildeten urbanen Mitte. Letztere ist in Ausbildung und Lebensgefühl mobil, weltgewandt und tolerant. Währenddessen verlor eine große Zahl von eher immobilen, regional und familiär verwurzelten Menschen, oft in kleinstädtischen Milieus, die überkommene Überzeugung, die Mitte der Gesellschaft zu repräsentieren, also den politischen und kulturellen Mittelpunkt der Bundesrepublik. All das unterscheidet Deutschland nicht von anderen westlichen Ländern.

Stellvertretend für diesen kulturellen Wandel in der gesellschaftlichen Mitte steht die sexuelle Emanzipation in, historisch betrachtet, enormer Geschwindigkeit. Innerhalb weniger Jahrzehnte hat die neue Mittelschicht in westlichen Demokratien die vielleicht erste Zivilisation der Weltgeschichte geprägt, in der Sexualität kaum mehr gesellschaftlich normiert ist. So begrüßenswert diese Befreiung von Diskriminierung und Lustfeindlichkeit ist, so sehr überfordert die neue sexuell tolerante Leitkultur viele Menschen mit einem tief verwurzelten Bedürfnis nach Verlässlichkeit und sortierter Ordnung. Wer es gelernt hat, seinen Platz in der Gesellschaft durch normgerechtes Verhalten zu sichern, leidet ganz persönlich unter dem Verlust von Maßstäben.

Bruchlinien durch die Volksparteien

Politisch liegt dieser gesellschaftliche Umbruch quer zu alten Links-rechts-Grenze. Als Mitte verstehen sich die neue wie die alte Mitte. Aber kulturell verlieren die Mitte-Links-SPD wie die Mitte-Rechts-Union ihre Bindung zur „alten Mitte“: Der typische SPD-Funktionär zählt zu jenen, die von der Öffnung der Unis in den 70ern profitiert hat, und ist deshalb Teil der neuen, tolerant und akademisch denkenden linken Mitte. Das ist kein Vorwurf, Aufstieg durch Bildung ist uralte sozialdemokratische Programmatik. Aber mit der Gründung der Grünen entstand ein Parteienangebot, das in der kulturellen Identifikation fern von kernig-männlichen Gewerkschaftraditionen stand, aber attraktiv für links-emanzipatorisch-gebildete urbane Wählerschichten wurde. Als mit Lafontaines Altherrenprojekt noch ein Angebot für linke Traditionalisten aufkam, wurde die Marktlücke für die SPD immer kleiner.

Die Implosion der SPD-Wählerschaft ist also das Ergebnis einer existenzbedrohenden Zweifrontenkrise: Die alte linke Mitte fühlt sich kulturell abgehängt, die neue wählt gleich grün, das vermeintliche Original für den Verantwortungs-Weltbürger.

Das Schrumpfen der Unionswählerschaft vollzog sich verspätet, aber analog: Die bürgerliche alte Mittelschicht hielt der tolerant-pragmatischen Merkel-Stoiber-Union so lange die Treue, wie keine vertretbar erscheinende Alternative auf dem Wahlzettel winkte. Die Bayernwahl zeigt nun mit Macht, wie heimatlos gewordene kleinstädtische Konservative den Versuch der Seehofer-Söder-CSU bewerten, ein bisschen auf der Radau-Pauke mitzuspielen. Seehofers Grenzverträge für eine Handvoll Geflüchtete oder die Söderschen Kruzifix- und Raumfahrtoffensiven waren wohl doch allzu durchsichtig.

So hat sich die alte rechte Mitte Freien Wählern und AfD zugewandt. Bayern zeigt mit den Freien Wählern, dass ein bürgerlich-konservatives-ländliches Angebot den Aufstieg der AfD stoppen kann, sie blieb unter ihrem bayerischen Ergebnis der Bundestagswahl. Die AfD bleibt dann noch ein Angebot für jene, die sehenden Auges Rassisten und Menschenfeinde stärken.

Immigrationspolitik als Gamechanger?

Alle beschriebenen Umwälzungen sind viel älter als die Flüchtlingskrise 2015. Keine wurde ausgelöst durch die Migrationspolitik des Jahres 2015. Allerdings ist Immigration eine der gewichtigsten Identitätsfragen an der Kluft zwischen neuer und alter Mitte. Während Menschen der alten Mitte um ihren althergebrachten dominanten Status fürchten, sobald Zuwanderer die Gesellschaft unübersichtlicher machen, ist Offenheit für Menschen aus aller Welt eine der definierenden Wertehaltungen für die neue Mitte.

Fazit: Union und SPD können nur dann politisches Gewicht zurückerobern, wenn sie Brücken bauen in Richtung der alten Mitte, ohne ihre Überzeugungen für ein modernes, offenes, in Europa verankertes Deutschland über Bord zu werfen und sich nach dem CSU-Muster unglaubwürdig zu machen.

3 Konsequenzen für Union und SPD

  1. Klarheit. Ein offener Umgang mit dem, was von der alten Mitte als Bedrohung wahrgenommen wird, also mit den Konsequenzen von Demografie, Globalisierung, Digitalisierung und Immigration. Keine floskelhafte Besänftigung, wo sich Verdrängungsängste der alten Mitte Gehör verschaffen, sondern klare Fakten und Perspektiven.
  2. Offenheit. Aussprechen der simplen Tatsache, dass Flucht für alle Betroffenen erst mal nichts anderes ein Problem ist, für die Geflüchteten wie für die aufnehmende Gesellschaft. Eine Gesellschaft, in der sich viele dem Wettbewerb um Jobs, um Wohnraum, um Sozialbudgets, vor allem aber um politische Aufmerksamkeit ausgesetzt sehen. Nur auf einer solchen Offenheit kann eine Integrationspolitik aufsetzen, die mehr Menschen mitnimmt als jene, die sich ihrer zukünftigen gesellschaftlichen Rolle eh sicher sind.
  3. Orientierung. Wer die Einsicht zulässt, dass mit Migration Konflikte verbunden sind, braucht einen Maßstab zur ihrer Lösung. Ein geeignetes Grundprinzip ist das der Reziprozität: Wer Ansprüche an Staat und Gesellschaft stellt, muss auch seine Regeln beachten und bereit sein, im Rahmen seiner Möglichkeiten zum Miteinander beizutragen. Wer etwa Toleranz einfordert, darf selbst keinen Zweifel zulassen, andere Weltanschauungen zu tolerieren. Ein Staat, der nachweislich das Prinzip von Reziprozität durchsetzt, ist berechenbar für Alt- wie Neubürger, für neue wie alte Mitte, und bietet etwas besonders Wertvolles: Orientierung.Zu den alten Stärken von Union und SPD zählt das interne Gewicht von engagierten Kommunalpolitikern. Wenn Bundes- und Landespolitik mehr auf jene hörten, die den gesellschaftlichen Alltag in Deutschland „an der Front“ organisieren, wäre das ein guter Neuanfang.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei W&V Online.

Über Parallelen zwischen Spitzenkandidaten und Top-Managern.

Die Umfrageergebnisse der SPD sind miserabel. „Es ist mir auch bewusst, dass ich maßgeblich dafür eine gewisse Mitverantwortung trage“, sagte Peer Steinbrück kryptisch am Wahlabend in Niedersachsen. Aber weiß er es wirklich? Hat Steinbrück endlich eine konsequente Positionierung als Kanzlerkandidat entwickelt? Das heißt: Kann er die gewonnene Beinfreiheit ausfüllen, ohne den „kleinen Mann“ weiter zu brüskieren und den Medien voyeuristisches Futter zu geben? Dafür erhält er nach der Niedersachsen-Wahl nun eine zweite Chance.

Top-Manager haben ähnliche Probleme
Das Dilemma des Peer Steinbrück gilt aber nicht nur in der Politik. Auch für Spitzenmanager aus der Wirtschaft ist die eigene Positionierung ein schwieriges Thema und der Umgang mit einer immer kritischeren Öffentlichkeit und hypersensiblen Medien keine Fingerübung. So müssen CEOs gegenüber verschiedenen internen und externen Anspruchsgruppen ihre unternehmerische Agenda durchsetzen und gleichzeitig langfristige Reputation aufbauen. Und das gerade mit den eigenen „Ecken und Kanten“.

Für Spitzenmanager in der Wirtschaft und ihre zentralen Kommunikationsrollen gilt daher folgendes Pflichtenheft:

Authentisch bleiben und die Wahrheit sagen
Jeder spielt eine Rolle, ob beruflich oder privat. Dennoch sollte nicht versucht werden jemand zu sein, der man nicht ist. Die Rolle des Spitzenmanagers leitet sich aus den Unternehmenszielen ab. Ob Treiber einer Branche, Sanierer oder Visionär – entscheidend ist der Kurs und das Wohl des Unternehmens. Erst dann kommen persönliche Merkmale und Eigenschaften, die unterstützen und eine sympathische persönliche Note geben können. Für Steinbrück gilt nun auch, was für seine Vorgänger selbstverständlich war: erst kommt die Partei, dann der Kandidat.

Inhalte definieren
Auf Basis der unternehmerischen Agenda gilt es ein „persönliches Programm“ für öffentliche und interne Auftritte zu definieren. Diese Storyline braucht Kernbotschaften, Metaphern und Schlüsselbegriffe, die wiedererkennbar sind. Denn an „Yes we can!“ von Barak Obama erinnert sich jeder.

Meilensteine nutzen
Jeder erfolgreiche Baustein der Unternehmensstrategie sollte als Kommunikationsanlass zur Umsetzung der eigenen Agenda genutzt werden. Ob im großen Stil und mitreißender Rede oder im vertrauten Gespräch mit Mitarbeitern. Voraussetzung ist eine gewisse Empathie und die Fähigkeit, anderen die Chance zum Gespräch auf Augenhöhe zu geben. Wer Peer Steinbrück im Wahlkampf schon einmal im Umgang mit Kindern und älteren Menschen beobachtet hat bekommt eine Ahnung, wie schwer das sein kann.

Führung und Kultur gestalten
Die Führungskultur und das Miteinander im Unternehmen bleiben durch soziale Netzwerke und negative Empfehlungen nicht lange hinter verschlossenen Türen. Das Top-Management hat hier zwar brutale Vorbildfunktion, es müssen aber alle Prozesse und Mitarbeiter eingebunden werden. Daher kann sich der Kandidat Steinbrück auch keine weiteren Patzer bei der Besetzung seines Beraterkreises leisten. Jede Entscheidung zählt – ob im Top-Management oder auf dem Weg ins Kanzleramt.

Klar ist: Ob Spitzenmanager offensiv öffentliche Auftritte suchen sollten, ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Entscheidend ist die eigene Kommunikationsagenda. Sie gibt Orientierung und unterstützt, unternehmerische Handlungsspielräume zu gestalten.

Und Peer Steinbrück? Er möchte nach der gewonnenen Wahl in Niedersachsen besonnener auftreten. Weniger ICH, mehr tatsächlicher Inhalt, mehr SPD soll es nun sein. Das ist auch notwendig. Ob er es kann und ob er professionell beraten wird, zeigt sich aber erst beim nächsten Wahl-Krimi am Abend des 22. September.