In unserer von Highspeed geprägten Businesswelt funktioniert Leadership nur noch, wenn Werte vorgelebt werden. Dies gilt für Führungskräfte und Unternehmen gleichermaßen. Präsenz, Pflichten, Pausen – und was Purpose damit zu tun hat: Darüber diskutierten Stefanie Kuhnhen, Serviceplan-Chefstrategin und Gründerin des Start-ups „kokoro“, dessen App Unternehmen hilft, die Team-Performance zu verbessern, und Buchautor, Podcaster und Senior Advisor bei Serviceplan Frank Behrendt. Für den roten Faden im Gespräch sorgte Kommunikationsexperte Klaus Weise.
KLAUS WEISE: Die Digitalisierung erhöht das Tempo für uns Arbeitende. Im Gegenzug, so die Theorie, sind wir produktiver und effizienter. In der Praxis allerdings – und das gilt für Start-ups ebenso wie für Großkonzerne – ist von Effizienz oft wenig zu spüren. Was läuft hier falsch?
FRANK BEHRENDT: Ich bin immer wieder entsetzt, wie viel kostbare Zeit für ineffiziente Meetings und Abstimmungen aufgewendet wird. Ich schätze, dass etwa die Hälfte der stattfindenden Calls, Meetings und Abstimmungen wenig zielfahrend ist. Das gilt für die aktuell sehr belieben Video-Calls ebenso wie für klassische Präsenzmeetings. Stellt euch mal vor, durch ein besseres Projektmanagement, strukturierte Meetings und eine Leading-to-Results-Kultur würde man diese Zeit einsparen! Man könnte die verschwendete Zeit reinvestieren in Inspiration, Zukunftsprojekte oder Freizeit. Das wäre eine Win-win-Situation für alle.
Stefanie, ich höre und lese viel von m den und überarbeireten Mitarbeitenden, die den Druck und das digitalisierungs bedingte Tempo kaum noch aushalten Wie passt eine App, die Team-Perfor-mance steigern soll, in diese Zeit?
STEFANIE KUHNHEN: Ganz hervorragend! (lacht) Die App ist ein Tool für Mitarbeitende, sich unabhängig und in Echtzeit selbst zu helfen. Sie ermöglicht es Teams, den gemeinsamen Erfolg aktiv zu gestalten, um eigenverantwortlicher und unabhängiger von der Führung zu werden. Denn zum Erfolg gehört auch der sinnvolle Ausgleich von Anstrengung und Ausruhen, von Fremd- und Selbstbestimmung.
Teams, die sich stärker selbst organisieren und dadurch noch besser werden – das klingt beinahe zu schön, um wahr zu sein. Wie funktioniert das konkret?
SK: Die Teams nehmen mit „kokoro“ wichtige Frühindikatoren wahr und lernen, zu steuern und auch rechtzeitig gegenzusteuern. Sie lernen, gemeinsam im Flow zu bleiben sowie Zugehörigkeit und psychologische Sicherheit als die wichtigsten drei Einflussfaktoren zu managen. Viel mehr braucht es nicht, um gemeinsam hocheffektiv und erfolgreich zu arbeiten, das wissen wir heute. Mit diesem Fokus auf die wesentlichen weichen Teamfaktoren kann Übermüdung und Überarbeitung aktiv gegengesteuert werden. Grundvoraussetzung bleibt ein vertrauensvolles Menschenbild: Wir legen die Kontrolle ab und vertrauen auf die hohe Eigenmotivation unserer Kolleginnen, dann können sich Sprint und Ruhe endlich sinnvoll ablösen.
Was ist wichtiger bei dem Ziel, eine bessere Team-Performance zu erreichen – mehr Sprints oder mehr Ruhe?
SK: Wie bei einem Spitzensportler oder einer Spitzensportlerin gehört zu nachhaltigem Teamerfolg beides: die Phasen, in denen man Höchstleistung abruft, aber eben auch die gezielten Ruhepausen dazwischen, um sich zu erholen und aufzutanken, als Vorbereitung für den nächsten Sprint.
Frank, du liebst Homeoffice und schreibst in deinem Buch „Von Kindern lernen“, dass das Zusammensein im Alltag mit deiner jüngsten Tochter Holly dir mehr bringt als jedes Business-Seminar. Ist mehr Homeoffice ein Weg zu mehr Entspannung und Zufriedenheit?
FB: Aus meiner Sicht liegt der Schlüssel in der Flexibilisierung und Individualisierung von Möglichkeiten, in denen sich Mitarbeitende in einem Unternehmen bewegen können. Ich liebe das Homeoffice, weil es mir die beste Möglichkeit gibt, mein Familienleben parallel optimal zu managen und meine ebenfalls berufstätige Frau maximal zu entlasten, sodass wir beide auch unsere Jobs vernünftig machen können. Andere sind gerne im Büro, brauchen viel Kontakt mit anderen. Als ich keine Familie hatte, ging mir das auch so. Heute höre ich meiner Jüngsten begeistert zu, sie hält mich auf Ballhöhe mit allem, was in der schnell drehenden digitalen Welt angesagt ist. Das nützt mir auch für meine Arbeit in der Agentur. Eigentlich müsste Holly als Trendscout eine Vergütung bekommen.
Der Name des von dir, Stefanie, mitgegründeten Unternehmens „kokoro“ stammt aus dem Japanischen und steht für die Einheit von Kopf, Herz und Körper. Müssen sich Arbeitgeber:innen künftig viel mehr und ganzheitlicher um das Wohlbefinden ihrer Angestellten kümmern, wenn sie die Überlastung ihrer Teams vermeiden wollen?
SK: Absolut, ich kann das nur empfehlen. Die Zeiten, in denen wir unser privates Ich jeden Morgen an der Schwelle zum Büro abgeben, sind endgültig vorbei. Wir brauchen die volle Kreativität der Menschen, und dazu müssen sie auch ihr ganzes Ich einbringen dürfen. Deshalb sind wir als Arbeitgeberinnen gut beraten, gerade Dual Personalities einzustellen, die viele Interessen und Fähigkeiten mit in die Arbeit einbringen können. Dann braucht es allerdings auch den Raum dafür: Wenn eine Mitarbeiterin als Hobby ihre Foto-Skills weiter ausbauen möchte, hilft das auch mir als Arbeitgeberin – und deshalb ist es sinnvoll, ihr dafür Zeit einzuräumen, auch vor 20 Uhr abends.
Gibt es eine Formel, wie Arbeitgeber:in-nen Kreativität und Inspiration stärker fördern können?
SK: Berufe, in denen Neues entwickelt werden muss – und da wird es viele geben in den folgenden Jahrzehnten, weil wir nahezu alle Systeme neu erfinden müssen -, brauchen Muße fürs Denken. Vielleicht auch einen gesunden Körper, in dem bekanntlich eher ein gesunder Geist wohnt. Hier ist es nicht damit getan, als Unternehmen einen Yogakurs auf der Dachterrasse oder ein paar Massagen anzubieten. Das ist ein großes und weit verbreitetes Miss-verständnis. Es geht zukünftig darum, Mitarbeitende als Menschen mit all ihren Facetten zu sehen, zu verstehen und zu respektieren – und nicht als Maschinen. Dazu gehört die Pflicht zur Gesunderhaltung, zur Denkraum-Gebung und zur freieren Alltagsgestaltung. Ich stelle oft fest, dass die disruptivsten Ideen, die wir im Rahmen von Strategieprozessen entwickeln, von Leuten kommen, die gerade in einem ganz anderen Feld eine spannende Erfahrung gemacht haben oder außerhalb der Büros Inspiration getankt haben. Auch für mich selbst kann ich sagen: Meine besten Ideen habe ich beim Laufen oder beim Spaziergang in der Natur – aber so gut wie nie am Schreibtisch. Denn das sind die Momente, in denen neue Querverbindungen entstehen, also Synthese im Kopf stattfinden kann. Und davon brauchen wir zukünftig mehr: nicht Fleißarbeit, sondern Muße zum Fleiß-Denken.
Früher gab es mehr Zeit, um Strategien und Konzepte auszuarbeiten, heute soll alles immer sofort fertig sein. Ich habe das Gefühl, die Leitungsebene ist extrem getrieben und gibt diese Hektik zu oft ungefiltert an ihre Teams weiter. Siehst du einen Ausweg aus diesem Turbo-Hamsterrad?
SK: Ich habe den Eindruck, dass durch die mehr gewordenen Marketingkanäle bei fast gleichem Budget für nichts mehr, schon gar nicht für die Strategie und Konzeption, ausreichend Zeit ist. Weil zunehmend nur noch auf das Taktische, die Delivery, geschielt wird und die wachsende Marketingmaschine bedient werden muss. Ich versuche als Führungskraft, dies immer wieder mit Kunden zu thematisieren und realistisch vor Augen zu halten, was geht – und was eben nicht geht. Und mit meinen Kolleg:innen Struktur und Ruhe in den Prozess zu bringen. Meist gewinnt man auch Zeit, wenn man mit Kunden bewusst in die Co-Creation geht, statt wasserfallartig zusammenzuarbeiten. Es ist niemandem damit gedient, mal eben schnell ein Konzept zusammenzuzimmern oder eine halbgare Strategie auf die Rampe zu schieben. Vor allem haben wir es meistens mit sehr lange existierenden Marken und Unternehmen zu tun, da sollte man nichts an der falschen Stelle überstürzen. Meine Erfahrung ist, dass man Kunden mit einer sauberen Analyse, fundierten Erkenntnissen aus der Marktforschung und einem durchdachten, kollaborativen Strategieprozess, der den Auftraggeber jederzeit transparent mitnimmt, überzeugen kann. Dafür braucht es Zeit. Und die gewinne ich mit einer überzeugenden Haltung und hohen Empathie, um Kunden dafür zu begeistern und damit das bessere Ergebnis zu gewährleisten. Dafür muss man gelungene Kunden- beziehungsweise Partnerbeziehungen aufbauen. Und nicht über Effizienz, sondern auch über Zukunftsfähigkeit reden. Das ist machbar. Aber das rufen sich viele nicht ins Bewusstsein oder denken, das ginge auf Dienstleistungsseite nicht.
Was rätst du Führungskräften, die selbst unter massivem Performance-Druck stehen?
SK: Im Sinne von „kokoro“ das Hams-terrad einfach stoppen. Sich selbst-
bestimmte, unverrückbare Zeitblöcke im Alltag schaffen. Sie zu verteidigen. Und das seinem Team vorzuleben und als Rat mitzugeben.
Diese Phasen der Selbstbestimmung führen zu Freiheit und Flow. Und es ist ganz egal, was ich in diesen Blöcken tue: ob ich konzentriert Deep Work absolviere oder eine Runde am Elbstrand schlendere. Beides nimmt Hektik und Druck raus – vor allem, weil ich es eben selbst entscheiden kann. Auch dafür braucht es wieder die Haltung, diesen Frei- und Möglichkeitsraum zu verteidigen. Was mich zu dem Schluss bringt: Innere Resilienz ist heute unerlässlich. Sie ist das Werkzeug, um aufmerksam und mit sich selbst verbunden der Hektik etwas Wirkungsvolles entgegenzusetzen.
Wenn man dir, Frank, auf den sozialen Netzwerken folgt, hat man den Eindruck, du hast jeden Tag Breaks mit deinem Hund oder sitzt auch mal zwischendurch in der Sonne. Ist das Show oder Teil deines Erfolgsgeheimnisses als stets entspannter und gut gelaunter „Guru der Gelassenheit“?
FB: Wenn es mir um Show ginge, wäre ich Influencer geworden. (lacht) Ich habe im Laufe der Jahre ein Modell für mich gebastelt, das Hochleistung und Entspannung im permanenten Wechsel beinhaltet. Ich habe jeden Tag Deep-Work-Phasen, in denen ich hochkonzentriert zwei Stunden am Stück komplett störungsfrei arbeite. Da telefoniere ich nicht, hänge nicht auf Social Media rum, konzentriere mich nur auf mein To-do. Meistens sind das Slots am Vormittag, wenn meine Kinder in der Schule sind, oder abends, wenn alle anderen Feierabend machen und deshalb kaum noch Mails und Telefonate eintrudeln. Weil ich antizyklisch arbeite, habe ich während des Tages Freiräume, die ich bei einer Nine-to-Five-Taktung nicht hätte. Also gehe ich morgens mit dem Hund in den Park, am Nachmittag zum Friseur oder sitze mit einem Espresso in der Sonne. Meine Arbeit schaffe ich trotzdem immer pünktlich und in den Deep-Work-Slots bin ich so effizient, dass ich meist nur die Hälfte der Zeit benötige wie im normalen Arbeitsalltag. Meine Erfahrung ist auch, dass ich zu Hause viel produktiver bin als im Büro, da werde ich durch die Kolleg:innen viel öfter abgelenkt. Ich gehe lieber mal an Freitagen ins Büro, um mich auszutauschen und Kontakte zu pflegen.
Noch mal zum Thema dieser TWELVE-Ausgabe, „Speed“ als Erfolgsfaktor: Die Notwendigkeit der Beschleunigung trifft auf die Bremse, dass immer mehr Menschen über genau diesen Speed klagen. In dem Buch „Das Ende der unvereinbaren Gegensätze, das du mitgeschrieben hast, Stefanie, heißt es, dass die Zeit der unvereinbaren Gegensätze vorbei ist und wir in Zukunft ganzheitlich denken, leben und arbeiten werden. Müssen wir also lernen, mit der Hochgeschwindigkeit zu leben?
SK: Ja, das müssen wir. Aber sie muss nicht das Böse sein, wenn wir es schaffen, sie zu integrieren. Unsere These im Buch ist, dass die Digitalisierung eine exponentiell zunehmende Verflechtung und damit die Auflösung von klassischen Polarisierungen nach sich zieht. Das ist ein Megatrend, der sämtliche Gesellschaftsbereiche von der Bildung über Business und Politik bis hin zum individuellen Sein betrifft und neue Strukturen, Machtverhältnisse und Systeme erzeugt. Daher müssen wir auch mit einer Zunahme der Geschwindigkeit in Prozessen leben. Ganzheitlich betrachtet bedeutet das zugleich, dass wir nicht machtlos ausgeliefert sind. Wir müssen aber mit höherer Aufmerksamkeit, Selbstverbundenheit und Entscheidungsfreudigkeit aktiv dafür sorgen, dass wir auch mal abschalten und einen bewussten Gegenpol bilden durch die Eigenzeit-Blöcke im Arbeitsalltag. Lasst uns die bewusste Reintegration der Langsamkeit die „Wiederentdeckung der Langsamkeit“ nennen. Dadurch können wir einen Kontrast zum Digitalisierungs-Turbo setzen. Was mir auch wichtig ist: Es geht dabei nicht immer einseitig um Langsamkeit oder Entspannung als Gegenpol. Es geht vielmehr um aktive Sellbstbestimmung in einem Strudel, der einen gefühlt mitreißen will, weil ich heute immer etwas verpasse, wenn ich in einer digitalen Welt offline bin. Das ist definitiv nicht schlimm aber ich muss mich von diesem Gefühl selbst befreien können.
Stichwort Gegenpol und Abschalten: Frank, du hast zu Hause ein Zimmer mit Erinnerungen aus deiner Kindheit, das dich in einen Happiness-Modus bringt. Sollten wir alle öfter mal im Kopf zu-rückreisen in die gute alte Zeit, um die aktuelle besser zu meistern?
FB: Ich kann das nur empfehlen. Mein Psychologen-Freund Bertold Ulsamer spricht von „Glücksankern“ die einem im Rahmen von NLP (neurolinguistischer Programmierung) helfen, in einen positiven Modus zu kommen. Bei mir ist das ein Flashback in meine extrem glückliche Kindheit. In meinem Memory Room habe ich alle Spielzeuge und Erinnerungen zusammengetragen, die für mich als Kind Glück ausgemacht haben. Mein Bonanzarad zum Beispiel. Betrachte ich diese Dinge, bin ich sofort woanders. Wenn ich am Tag im digital geprägten Speed-Modus bin, dann kann ich so eine Stopptaste drücken und mich mental entspannen. Nach einem solchen Happiness Break kann ich dann wieder eine Zeit lang Vollgas geben. Mit dieser Methode spielt übrigens auch das ZDF. Das Format der Samstagabend-Show „Wetten, dass..?“, die in diesem Jahr am 19. November wieder einmalig mit Thomas Gottschalk über die Bildschirme flimmert, ist eigentlich total aus der Zeit gefallen. Aber sie versammelt Millionen am Lagerfeuer der Erinnerungen. Und das schafft inmitten des Trommelfeuers meist schlechter Nachrichten aus aller Welt eine wohlfühlende Wärme und Ruhe.
Vielen Dank für das inspirierende Gespräch!
Dieses Interview erschien zuerst im TWELVE, dem Magazin der Serviceplan Group für Marken, Medien und Kommunikation. Weitere spannende Artikel, Essays und Interviews von und mit prominenten Gastautor:innen und renommierten Expert:innen lesen Sie in der neunten Ausgabe unter dem Leitthema „Speed! The Winning Factor in the Digital Age“: https://sp-url.com/twelve23-lp