Als vor einem Vierteljahrhundert die Grenzen zwischen den Blöcken in Europa fielen, sagten die skeptischen unter den weitsichtigen Beobachtern eine neue Phase der Unsicherheit in der internationalen Politik voraus. Im Trubel der Freude über die friedliche Revolution in immer mehr europäischen Ländern war das bestenfalls ein Störgefühl. Aber auch die Skeptiker unter den Skeptikern hätten sich kaum so einen Block an Verunsicherung vorstellen können, wie wir ihn nun erlebt haben:

Das G8-Partnerland Russland erobert Teile des EU-Assoziationspartners Ukraine. Die vertraglichen Verpflichtungen von EU-Partnerländern werden in Nullkommanix zum Spielball nächtlicher Feilschereien in Brüssel. Die heilige Grundregel einer unabhängigen, nur der Geldwertstabilität verpflichteten Europäischen Zentralbank implodiert in einem Billionen-schweren Aktionismuswirbel. Schließlich produziert eine religiös-militärische Eskalation im nahen Osten Flüchtlingszahlen, die nur von der Vertreibung in der Nachkriegszeit überboten wurden. Und Fanatiker bedrohen unser aller Leben explizit deshalb, weil wir es so leben, wie wir es leben.

Blitzschnell verändert hat sich aber nicht nur die internationale Politik. Unvorstellbar wäre vor 25 Jahren auch gewesen, dass ein offen schwuler CSU-Abgeordneter den Bund der Vertriebenen leitet. Oder dass an immer mehr Tagen im Jahr der Wind der wichtigste Stromerzeuger ist. Dass der Kaiser mit Korruption in Verbindung gebracht wird und Pornos immer und überall verfügbar sind, während Raucher an den Rand der Gesellschaft und der Bürogebäude gedrängt werden.

Für die Politik bedeutet diese Veränderungsgeschwindigkeit eine neue Qualität von Herausforderung. Eine Kernaufgabe politischer Führung ist es stets, Orientierung zu stiften. Sie muss gerade in einer repräsentativen Demokratie den Eindruck vermitteln, als wüsste sie, was zu tun ist und als wäre jede Entscheidung abgeleitet aus einem breiten Wertekonsens.

Nun fehlt politischen Entscheidern oft – darauf hat etwa Helmut Schmidt immer wieder hingewiesen – das erforderliche umfassende Wissen, um in schwierigen Situationen objektiv richtig zu entscheiden. Das mag man bedauern, aber es ist nicht zu ändern. Nun aber wächst genau dieses Problem: Die – durch eine historische Brille betrachtet – blitzschnellen Veränderungen etwa religiöser und sexueller Werte verbauen der Politik die klare Bezugnahme zu jedem Wertekonsens. Bevölkerungsteile außerhalb der urban-ökologischen, akademisch dominierten Toleranz-Szene fühlen sich abgehängt von der aktuellen politischen Entscheider-Elite. Zugleich erschweren in der internationalen Politik die „failed states“ in Afrika, militärisch aggressive Regionalmächte in wechselnden Bündnissen sowie gewaltbereite und religiös fanatisierte Gesellschaftsteile mehr und mehr Prognosen, wie welcher Akteur in welchem Konflikt auf welche Situation reagieren wird.

In einer derart verunsichernden Unordnung bleibt nur die Kommunikation von Köpfen als Vertrauensanker für repräsentative Macht. Je weniger Bindungskraft von „organisierten Werten“ in Kirchen, Parteien und Medien ausgeht, desto größer wird die Last, die das Vertrauen in Führungspersonen schultern muss. Je unberechenbarer dem Wahlbürger die politische Welt erscheint, desto mehr ist er angewiesen auf das gute Gefühl, dass „die da oben“ schon ungefähr wissen, was sie tun.

2016 wird sich zeigen, wohin uns dieses Bedürfnis nach Vertrauensprojektion führt. Zahlt sich die entschlossene unideologische Linie für das Nüchternheits-Duo Merkel-Steinmeier aus, auch wenn oder gerade weil es sich weiter jedes Heilsversprechens durch politische Befreiungsschläge enthält? Oder finden sich Populisten, die diese für ihre Fähigkeiten ideale Ausgangslage zu nutzen verstehen?