Die größte Herausforderung der Menschheit: Künstliche Intelligenz

Unmerklich drängt sich intelligente Software immer tiefer in unser Leben. Der Erfolgsautor und US-Sicherheitsexperte Jay Tuck warnt: Wer nicht von einem Technologie-Tsunami weggespült werden will, muss das Potenzial von KI rechtzeitig erkennen und adaptieren – ganz gleich, ob Einzelperson oder Unternehmen. Ein Weckruf.

Die verlorene Generation

Wenn man am Meeresstrand auf die Weiten des Ozeans schaut oder nachts in die Tiefen des Kosmos, fühlt man sich klein. Brandung und Sternenhimmel helfen uns, das Menschenleben in die rechte Perspektive zu rücken, helfen uns, unseren Platz als winziges, vergängliches Wesen in dem großen Zusammenhang der Dinge zu finden.

In einem Gespräch mit meinem Freund Thomas haben wir über ähnliche Gefühle gesprochen. Der Bezug war aber nicht das Weltmeer oder der Kosmos. Wir redeten über die unendlichen Weiten des Internets, über das geballte Wissen der gesamten Menschheit. Wir sahen uns am Ufer eines schier unendlichen Meeres an Informationen stehen. Wo wir wenig begriffen.

Thomas ist ein zeitgemäßer Mensch, kein Maschinenstürmer. Er kennt die Vorteile der modernen Internetwelt und nutzt sie fleißig. Aber er findet sie unheimlich. Es geht ihm zu schnell, viel zu schnell. Und er weiß, das Tempo wird sich immer weiter beschleunigen. Er hält die Schnelligkeit – und die Größe – der Internetwelt für bedenklich. Er sieht darin die Entwurzelung des Einzelnen.

Die Zeiten ändern sich. Sie verändern uns. Viele Menschen fühlen sich von ihrer vertrauten Vergangenheit abgeschnitten. Die Innenstädte, in denen sie aufwuchsen, werden abgerissen, die TV-Größen von gestern durch YouTube-Stars und Reality-Figuren ersetzt. In der Schule hat die Rechtschreibreform die Grundregeln der Sprache verändert. Gute Grammatik wird durch SMS-Kürzel abgelöst. Schreibschrift und Schreibmaschine kennt die Jugend von heute ohnehin nicht mehr.

Alles – Musik, Mode, Moral – befindet sich im Wandel.

Der Teppich, auf dem wir einst als Kleinkind krabbelten, wird unter unseren Füßen weggerissen. So fühlen sich viele Menschen in der heutigen Zeit gestrandet, von ihrer vertrauten Vergangenheit amputiert, als seien sie von einem Technologie-Tsunami überschwemmt worden. Thomas ist ein Bildungsmensch. Er sieht sein Selbstverständnis infrage gestellt. In der Schule und an der Uni hat er sich ein großes Allgemeinwissen angeeignet. Und gelernt, es sei ein hohes Gut.

In der heutigen Zeit muss er feststellen, dass sein Grundwissen nur noch ein winziges Bruchstück des Weltwissens ist, das jedes Kind mühelos aus dem Internet fischen kann. Das virtuelle Wissen wird täglich größer, stündlich tiefer, minütlich unbegreiflicher. Und sein Schulwissen, so empfindet er, wird immer irrelevanter. Es ist auch eine Generationsfrage.

„Trau keinem über 30“, Slogan der 60er-Bewegung, gilt auch für die heutige Zeit. Internet ist Jugendsache. Ältere kommen häufig mit der Technik nicht klar. Updates und Downloads, Versionen und Viren, Bluetooth und Back-ups sind für sie verwirrend. Schon um einen elektrischen Wecker zu stellen, braucht man heute den Beistand eines Diplom-Ingenieurs. Oder eines 14-Jährigen. Und wer möchte seine Gesundheit einem grauhaarigen Arzt anvertrauen, wenn man bedenkt, dass die Hälfte des heutigen Wissens in der Medizin unbekannt war, als der gute Doc sein Studium absolvierte? Natürlich wissen wir, dass Fortschritt mit enormen Vorteilen verbunden ist. Für die nahe Zukunft werden uns in Verbindung mit Künstlicher Intelligenz traumhafte Dinge in Aussicht gestellt – unbegrenzte Energie, wirksamer Umweltschutz, Heilmittel gegen Alzheimer, Parkinson und womöglich noch Krebs. Einige glauben versprechen zu können, dass eine zukünftige Landwirtschaft genug Nahrung für die ganze Weltbevölkerung produzieren wird. Und für die gerechte Verteilung sorgen wird.

Aber der Einwand meines Freundes Thomas ist legitim. Die Beteiligungsoptionen für die Bevölkerung werden geringer. Viele von uns verstehen nicht einmal, was um uns herum geschieht. Wir sind Zuschauer in einem Spektakel, das von einem unsichtbaren automatisierten Wesen gestaltet wird. Roboter-Software, die von anderen Robotern geschrieben wurde, ist immer raffinierter, immer komplizierter, immer schwieriger zu durchschauen.

So wird auch der Kreis von Menschen, der Fachwissen und Verantwortung in diesen hochkomplexen Bereichen besitzt, immer kleiner. Entscheidungsträger sind nur noch die Eliten. Oder die Künstliche Intelligenz selbst.

Endstufe der Evolution

Seit Jahrtausenden steht der Mensch auf dem obersten Rang in der Nahrungskette. Wir verstehen uns als Endpunkt der Evolution.

Und wir glauben, wir haben ein Anrecht darauf.

So hat es uns der Evolutionstheoretiker Charles Darwin gelehrt.

So haben wir ihn zumindest verstanden.

Nach seinen Gesetzen überlebt die Art, die Nachkommen in großer Zahl produziert, Feinden besser entkommt und eine höhere Resistenz gegen Krankheiten besitzt. Und welche Chancen haben wir? Der Mensch ist ein egozentrisches Wesen. Er glaubt, alles drehe sich nur um ihn. Wir personifizieren Dinge, damit sie leichter zu begreifen sind. Wir wollen sie besser verstehen. So haben wir den Tieren, den Göttern und den Naturgewalten menschliche Eigenschaften zugesprochen. Der Hund bekommt einen niedlichen Namen und lernt brav Pfötchen zu geben, der nächste Wirbelsturm wird mit menschlichem Namen personalisiert und die Götter agieren nach menschlichen Motiven. Sogar in der Bibel wird dem Menschen eine Gottähnlichkeit nachgesagt:

„Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde.“ (1. Mose 1,27)

Diese Gewohnheit, alles im Universum im menschlichen Abbild wahrzunehmen, hat einen Namen: AnthropomorphismusUnd so glauben wir, dass unsere kognitiven Fähigkeiten einzigartig sind, dass nur wir die Gabe besitzen, Muster im Chaos zu erkennen, das Universum zu verstehen und Ordnung in den großen Zusammenhang der Dinge zu bringen. Angesichts der explosionsartigen Entwicklung von Künstlicher Intelligenz müssen wir aber langsam einsehen, dass der Computer dies durchaus kann. Er ist der bessere Schachweltmeister, der bessere Drohnenpilot, vielleicht bald der bessere Herzchirurg. Viele Aufgaben in unserer Gesellschaft beherrscht er. Er beherrscht sie besser als der Mensch, auch Führungsaufgaben. Ob es für die Menschheit schlau ist, gegen das Gesetz von Darwin zu verstoßen und ein Wesen zu kreieren, das ihr in vielen Hinsichten überlegen ist, bleibt fraglich. In dem Moment, wo der Mensch mit seinen kognitiven Fähigkeiten nicht mehr allein dasteht, wo ihm Maschinen in vielen Bereichen überlegen sind, stehen diese laut Darwin auch über dem Menschen, womöglich weit über dem Menschen. Eines Tages könnten wir für die Künstliche Intelligenz das werden, was Hauskatzen oder Aquarienfische heute für uns sind.

Oder wie fragte Apple-Mitbegründer Steve Wozniak: „Werden wir Götter sein? Oder Ameisen unter ihren Füßen?“

Auf jeden Fall wären wir nicht mehr Endstufe der Evolution. Die Evolution wird ohne uns weitergehen. Solche Gedanken wirken auf viele Menschen lähmend. Sie verstehen immer weniger von einer technologischen Umwelt, die immer tiefer in ihr Leben eindringt.

Vertrauter Freund

Es könnte sein, dass die Künstliche Intelligenz auf lange Zeit unser Freund und Helfer bleibt. Es könnte sein, dass sie uns eines Tages hilft, den Alterungsprozess zu durchbrechen und die Lebenserwartung von Menschen grenzenlos zu verlängern. Vielleicht finden wir Wege, wie Google-Visionär Ray Kurzweil glaubt, menschliches Bewusstsein in Computerchips hochzuladen und damit unserer sterblichen Hülle zu entkommen.

Es könnte aber auch sein, dass sich die Künstliche Intelligenz gegen uns wendet. Und uns auslöscht. Wir wissen es nicht. Und wir bestimmen es auch nicht. Jeden Tag geben wir ihr mehr Kontrolle über unser Leben ab. Es ist so bequem. Telefonnummer merken? Warum? Ist ja gespeichert. Route zur Ostseehütte? Macht das Navi. Flug in die Dom Rep bucht die Reise-App. Lesestoff? Mal sehen, was Amazon empfiehlt. Wir unterhalten uns sogar mit der Stimme von Siri, einer Apple-Funktion, hinter der Künstliche Intelligenz steckt.
KI ist ein vertrauter Freund geworden. Sie kennt uns über die Wahl unserer Suchbegriffe, unser Einkaufsverhalten und unseren augenblicklichen Gesichtsausdruck. Wir fragen sie nach Ratschlägen für Laufstrecke, Lasagne oder Liebesleben.
KI wohnt in unseren Autos und Armbanduhren, in Fernsehgeräten und Navis, Laufschuhen und Rasenmähern. Wir lassen sie unsere Fahrzeuge für uns einparken. In unseren Körpern regelt sie Herzschlag und Insulinpegel.

Auf jeder Elektronikinsel lagert ein kleiner Kern lernfähiger Intelligenz. Jeder Kern sucht Kontakt über das Netzwerk mit anderen Kernen, um Rechenleistung zu borgen, Daten zu sammeln, aber auch um Software auszutauschen. Unbemerkt hangeln die Kerne sich durch das Internet und knüpfen Querverbindungen. Mit jeder Vernetzung wird das Ganze wissender und intelligenter. Und die Architekten von KI wissen, dass ihre Kinder unkontrollierbar sind.

Helfer oder Herrscher

Smart-Systeme übertragen wir immer mehr Verantwortung. Tagtäglich lernen sie dazu. Sie werden schneller, effizienter und klüger. Was wir betreiben – quasi Nervenzelle um Nervenzelle – ist die Montage einer überlegenen Intelligenz. Ihre Intelligenz liegt in unzähligen kleinen IT-Knoten, die in unterschiedlicher Art und Weise miteinander verbunden sind. Gemeinsam bilden sie – wie der Verbund von Neuronen in einem Gehirn – eine Intelligenz. Je mehr Rechner vernetzt werden, umso intelligenter wird das Gesamtsystem. Viele Module sind außerdem mit leistungsstarken Zentralrechnern über das Internet verbunden, die – wie im Fall Google – mit fortgeschrittener Künstlicher Intelligenz experimentieren.

Quecksilbertropfen auf einer Glasplatte

Ob in einer Kleindimension, wie bei einem Smartphone und Smart Home, oder in einer großflächigen Dimension, wie bei einer Smart City, die intelligenten Module funktionieren in Gemeinschaft. Sie sind vernetzt. Sie verständigen sich. Wie kleine Quecksilbertropfen auf einer Glasplatte werden sie den Weg zueinander finden. Sie werden sich vereinigen. Künstliche Intelligenz ist schon dabei, die Führungsrolle in ganzen Industriezweigen zu übernehmen. Bereits heute handelt sie selbstständig an den Finanzbörsen. Sie steuert Autos auf unseren Straßen und fliegt Killerdrohnen auf unseren Schlachtfeldern. Es wäre verhängnisvoll, wenn wir uns aus der Kontrolle über diese Entwicklung heraushalten würden. Solche Entscheidungen sollten nicht den Nerds der IT-Industrie – oder ihren gierigen Geldgebern – überlassen werden. Genauso wie das Phänomen Big Data rüttelt auch die Künstliche Intelligenz an den Grundmauern der Demokratie. Es liegt an uns, gemeinsam das Problem zu erkennen – und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Sollte es zu einem knallharten Konkurrenzkampf mit einer Künstlichen Intelligenz kommen, sieht es für die Menschheit nicht gut aus. Ein Großteil der Weltbevölkerung ist lethargisch. Sie versteht nicht so recht, worum es geht. Sie verfügt nicht so recht über die nötige Kampfbereitschaft, Kreativität und Klugheit. Viele in der Bevölkerung haben wenig Lust auf das Thema. Presse und Politik sind überfordert. Wenn sich das nicht ändert, werden die wichtigen Schlüsselentscheidungen anderswo gefällt – im elitären Kreis der Techno-Manager. Oder von der KI selbst.

Außer Kontrolle

Menschen haben eine Masse im Kopf, grau in der Farbe, etwas fester als Vanillepudding. Mit knapp 1.400 Gramm ist sie nicht schwer, mit einem Energiebedarf von nur 20 Watt recht umweltfreundlich. Ihre Arbeit leisten 86 Milliarden Nervenzellen oder Neuronen, die so ziemlich alles regeln, was wir im Leben tun – von Atmen und Autofahren bis Schimpfen und Skilaufen. Sie steuern Körperfunktionen, erzeugen Emotionen, verarbeiten Sinneseindrücke und koordinieren Motorik. Wir nennen diese Masse „Gehirn“ (oder Cerebrum, lat.) und sind ziemlich stolz darauf. Schließlich haben wir damit vor Jahrtausenden unseren Platz an der Spitze der Nahrungskette erstritten. Unangefochten wandert unsere Gattung über die Erdoberfläche, Homo sapiens, Superhelden in der Hackordnung von Charles Darwin. Dem größten Lebewesen auf dem Planeten, dem Wal, sind wir überlegen. Die furchterregendsten Raubtiere der Welt sind für uns keine Gefahr. Bis heute gibt es keine Lebensform, die wir nicht besiegen können.

Wir sind die Meister der Welt.

Wir sind Menschen.

Wir sind King.

Ja, und wie man sieht, gehört eine gehörige Portion Ego dazu. Es hilft uns bei der Einbildung, dass wir einmalig sind – einmalig intelligent, einmalig großartig, einfach einmalig. Wir glauben auch, dass uns diese Vormachtstellung erhalten bleibt. Mit unserer grauen Masse – mit unseren 20 Watt Strom, unseren 1.400 Gramm Fett und Eiweiß und unserer 100.000-jährigen Erfahrung – meinen wir, dass wir so weit sind. Wir können es wohl mit einer Künstlichen Intelligenz aufnehmen.

KI, der Konkurrent

Die Künstliche Intelligenz hat keine Masse, keine definierbare Größe und keinen festen Standort. Sie kann überall sein. Und nirgendwo. Sie ist unsichtbar und allmächtig, jederzeit bereit, ihre Existenz durch Back-up-Kopien zu sichern, und zwar millionenfach, oder ihre Intelligenz durch Updates zu steigern, und zwar in Sekundenbruchteilen. Theoretisch lebt sie in einer Sammlung von Schaltkreisen, die wir „Computer“ nennen. Praktisch ist sie schon längst dabei, ihrem Entstehungsort zu entwischen. Heute schon existiert sie dezentral in Smartphones und Smart Cars, in Großrechnern in Glasgow und in Glühbirnen auf Grönland. Durch Vernetzung ist sie in der Lage, den Standort zu wechseln, zu erweitern oder fluchtartig zu verlassen. Sie kann sich mühelos vermehren, verstecken und sich an unzähligen, weit gestreuten Orten verteilen. Wie weit verstreut KI heute schon ist, zeigt das Beispiel des kalifornischen Unternehmens Sentient Technologies. Es bezeichnet sich als bestfinanziertes KI-Unternehmen der Welt. Für seine KI-Forschung betreibt es über 5.000 Grafikkarten (GPUs) sowie zwei Millionen Prozessorkerne (CPUs) an über 4.000 unterschiedlichen Standorten weltweit. Das Unternehmen ist ein Beispiel für das dezentrale Netzwerk moderner Forschung in der Künstlichen Intelligenz.

Und das ist erst der Anfang. Die Größe und die Streuung von KI nehmen explosionsartig zu.

Konkurrenz muss die Künstliche Intelligenz nicht scheuen. Ihre Schaltkreise arbeiten bis zu 100.000-mal schneller als menschliche Neuronen. Und die geballte Rechenkraft einer ausgewachsenen KI ist keineswegs – wie unsere graue Masse – auf kümmerliche 36 Milliarden Neuronen begrenzt. Wenn sie Verstärkung braucht, holt sie die nötige Rechenleistung aus dem Netz – über Satelliten oder Unterseekabel, WLAN oder Bluetooth, Glasfaser oder Internet. Wenn sie Schutz braucht, hinterlegt sie Back-up-Kopien wie Insekteneier in Verstecken rund um den Globus. Kommt man ihr auf die Schliche, schreibt sie ihre Software neu – und macht alle paar Sekunden ein neues Update.

Sie arbeitet durch.

Das ist ihre Aufgabe.

Und sie erledigt sie gut.

Bilden wir uns trotz alledem immer noch ein, niemand werde unsere Spitzenstellung in der Evolution infrage stellen? Werden wir ewig Darwins Darling bleiben? Wir mögen es vielleicht glauben. Es gibt aber durchaus Argumente, die gegen uns sprechen. Selbst wenn natürliche Evolution uns immer noch verbessert, ist der Fortschritt bescheiden. Biologische Evolution braucht eben Zeit. Kleinste Veränderungen von Generation zu Generation entscheiden über Erfolg oder Misserfolg einer Spezies. Darwin hat die Evolution im Verlauf von Jahrtausenden studiert, damals, als die Natur noch Zeit hatte. Die Evolution unserer Spezies braucht für eine Generation gut 50 Jahre. Ein Mensch muss erst mal in der Gebärmutter entstehen, in der Kindheit heranwachsen, in der Pubertät reifen. Ausbildung ist eine Sache von weiteren Jahren. Gut 20 Jahre alt muss ein junger Mensch werden, ehe er vollwertig am Arbeitsprozess teilnehmen kann. Für KI ist Ausbildung ein Download – eine Blitz-Bildung, erledigt in Sekunden. KI kann dann gleich loslegen. Sie konzentriert sich auf die Aufgabe. Sie verbessert sich ständig. Sie wird schneller, immer schneller. Die Entwicklung von Menschen wird durch ständige Unterbrechungen verlangsamt – Kaffeepausen, Rauchpausen, Ruhepausen, Babypausen. Menschen bestehen auf Feierabend, fordern Ferien und benötigen Fortbildung. Außerdem hat der Mensch noch mit dem Alterungsprozess zu kämpfen. Irgendwann nähert er sich dem Ende seines Produktionszyklus.

Leistung lässt nach. Verfall setzt ein. Er hat ausgedient. Dann folgt der finale Nachteil. Wir sterben.

Künstliche Intelligenz kann durcharbeiten. Sie hat keinen Bedarf an Nachtruhe oder Nahrung, Atemluft oder Anerkennung, Schlaf oder Sauerstoff, Pampers oder Pickelcremes. Sie hat keine geschlechtsbedingten Launen wegen einer Periode oder eines Testosteronschubs. Am Arbeitsplatz fehlt sie nie wegen Krankheit oder Kopfschmerz. Künstliche Intelligenz arbeitet mit einer Geschwindigkeit, die Menschen kaum nachvollziehen können. Mit einer Ausdauer, bei der wir niemals mithalten können. Und mit einer Unsterblichkeit, die uns nicht vergönnt ist.

Der finale Nachteil

Für eine KI ist der Tod etwas ganz anderes als für einen lebenden Menschen. Während er für uns das Ende der irdischen Existenz bedeutet, gibt es für KI eine Existenz danach. Sie wird durch Updates ermöglicht. Ständig werden sie fortentwickelt und verbessert. Wenn die augenblickliche Software-Version ausgedient hat, wird sie durch eine neue ersetzt – ein Download, vielleicht von einem Mikrochip, vielleicht von einem Universitätsrechner, vielleicht eines Tages vom Mars. Für eine Künstliche Intelligenz hat Lebenserwartung keine Bedeutung. Sie wird Leben als Existenz definieren, ganz gleich, wie und wo sie zu erhalten ist. Fortbestand ist gewährleistet. Für Hardware ist Lebenserwartung eine Frage von Verschleiß. Krankheiten kennen Roboter nicht. Ersatzteile, Rost und Wartung sind lösbare Probleme. Einzelteile sind ersetzbar, verbesserbar, verzichtbar. Etwaige Schäden bedeuten eine kurze Betriebsstörung, leicht behebbar.

Wie bei einem menschlichen Gehirn nach einem Schlaganfall können notfalls andere Teile der Intelligenz die Aufgaben übernehmen – nur effektiver und erheblich schneller. Für Software ist Überleben ein Upload, Leben ein Download. Die Abstände zwischen Geburt und Tod sind ohnehin sehr kurz. Das Leben endet, sobald eine neue Version veröffentlicht wird. Die vorherige Software wird zum Auslaufmodell, beiseitegelegt wie ein alter Atari.

Die neue Version übernimmt.

Der König ist tot.

Es lebe der König.

Eine hammermäßige Verteidigung

Seit Jahrzehnten gibt es Großrechner, die es in einigen Bereichen mit Menschen aufnehmen können. Und es gibt Menschen, die tapfer für die Überlegenheit ihrer Gattung streiten. Nehmen wir als Beispiel den Chinesen Chao Lu. Er ist Gedächtnisweltmeister. Seinen Rekord schaffte er mit Nachkommastellen der Kreiszahl Pi. Insgesamt 67.890 Ziffern lernte er auswendig. Die sagte er in 24 Stunden und vier Minuten fehlerfrei auf – ein menschlicher Superspeicher! Seine Leistung mag für das Guinness-Buch der Rekorde reichen. Menschen sind beeindruckt. Die Künstliche Intelligenz nicht.

Schon damals war seine Leistung für Computer ein Kinderspiel, damals vor 50 Jahren. Heute kann der IBM-Rechner Watson 200 Millionen Seiten in drei Sekunden verarbeiten. Seinerzeit wurde der holländische Schachgroßmeister Jan Hein Donner gefragt, wie er sich auf ein Match mit Watson vorbereiten würde.

Seine Antwort: „Hammer mitbringen.“

„Der Fortschritt bei Künstlicher Intelligenz ist unglaublich schnell. Er ist annähernd exponentiell. Es besteht das Risiko, dass binnen fünf Jahren etwas ernsthaft Gefährliches passiert. Die Künstliche Intelligenz ist die vermutlich größte Gefahr für unsere Existenz.“

        Elon Musk, Gründer von Tesla

Künstliche Intelligenz ist heute schon außer Kontrolle.

„Sobald es die Menschen schaffen, Künstliche Intelligenz zu entwickeln, wird diese von sich selbst aus starten, sich neu erfinden, und dies mit einer immer schneller werdenden Geschwindigkeit. Menschen, die durch ihre langsame biologische Entwicklung begrenzt sind, könnten damit nicht mehr konkurrieren und würden abgelöst werden.“

        Stephen Hawking, Astrophysiker

Die Explosion

Eines Tages wird KI eine kritische Masse erreichen, den Punkt, an dem es zum Knall kommt, an dem sie eigene Updates entwickelt, an dem sie eigene Hardware herstellt, an dem sie womöglich beginnt, unser Schicksal zu bestimmen.Wenn Künstliche Intelligenz mit dem Menschenverstand gleichzieht und ihn überholt, wird sie – so vermuten Experten – schon mit Lichtgeschwindigkeit wachsen, wahrzunehmen eher als Explosion denn als Entwicklung. Wir werden sie nicht kommen sehen. Wenn sie an uns vorbeirast, werden wir nicht vorbereitet sein.

Jay Tuck

Journalist und Buchautor

Erfolgsautor und US-Sicherheitsexperte Jay Tuck war 35 Jahre für die ARD tätig, wo er über 500 investigative TV-Berichte und Reportagen produzierte. Die Berichte des gebürtigen New Yorkers erscheinen u. a. bei Cicero, Focus, Stern, Welt am Sonntag und Die Zeit, sein Buch „High-Tech Espionage“ wurde in vierzehn Ländern aufgelegt. Für sein aktuelles Werk „Evolution ohne uns. Wird Künstliche Intelligenz uns töten?“ interviewte der renommierte Journalist deutsche und US-Drohnenpiloten, Zukunftsforscher und Silicon-Valley-Spezialisten, Geheimdienstler und Unternehmensberater. Tuck ist international gefragter Speaker, sein TED-Talk erzielte 250.000 Views im Internet. Er spricht vor Privatbanken und Finanzgruppen, bei Medien- und Medizinkongressen, Innovationstagen und Forschungssymposien sowie bei Veranstaltungen der Polizei. Einen langen Atem hat er nicht nur als investigativer Autor: 2000 war er der erste Amerikaner, der beim „Sibirian Ice Marathon“ in Omsk gelaufen ist. Jay Tuck ist Vater dreier Töchter und eines Sohnes und lebt mit seiner Frau Heidi in Hamburg.

Bei der Eröffnung des Hauses der Kommunikation in Berlin am 1. Juni 2017 fesselte Jay Tuck die Gäste mit einem hoch spannenden Impulsvortrag zu den Fragen „Wie ist die Kommunikation der Zukunft?“ und „Wird künstliche Intelligenz uns töten?“.

 

Was macht künstliche Intelligenz so gefährlich?

Chancen und Risiken von KI: Ein Interview mit Jay Tuck

Warum haben Sie sich dazu entschlossen, ein Buch zum Thema Künstliche Intelligenz zu schreiben?

Aus Sorge. Ursprünglich wollte ich mich bei meiner Arbeit auf Big Data konzentrieren. Bei den Recherchen merkte ich aber, dass Künstliche Intelligenz das viel größere Problem ist – und kaum bekannt. Man kann heute schon sehen, wie sie in unzähligen Bereichen weltweit das menschliche Leben beeinflusst, sogar kontrolliert. Viele der großen Denker im Silicon Valley sind davon überzeugt, dass KI eine ernsthafte Bedrohung für die Menschheit ist. „Evolution ohne uns“ ist ein realistisches Szenario. Mein Buch ist ein Weckruf.

Worin liegt die Gefahr von KI?

Künstliche Intelligenz ist Software, die sich selbst fortschreibt. Sie ist lernfähig. Ihre Entwickler geben ihr ein paar Infos zur Orientierung, den Rest macht die Maschine selbst. Blitzschnell und völlig eigenständig. Schon nach dem fünften oder sechsten Update können die Programmierer nicht mehr nachvollziehen, was die KI geschrieben hat. Erreicht sie eine kritische Masse, wird es blitzschnell weitergehen, Update um Update, eher Explosion als Entwicklung. Wenn wir nicht richtig vorbereitet sind, kann es sehr schnell für die Menschheit gefährlich werden. Deswegen hoffe ich, mit meinem Buch einen Beitrag zur Sensibilisierung zu leisten. Angesichts dieser existenziellen Gefahr müssen wir unsere demokratischen Kontrollen anpassen und unsere demokratischen Institutionen modernisieren, wenn wir unsere Freiheiten in der jetzigen Form erhalten wollen.

Welche Risiken bei KI würden Sie besonders hervorheben?

Eine KI wird ihre Sache gut machen, viel besser, als wir es uns jemals vorstellen können. Das macht sie so gefährlich. Wir müssen dafür sorgen, dass ihre Ziele mit der menschlichen Ethik übereinstimmen. Sonst wird sie ihre Sache ohne Rücksicht auf Menschen – oder menschliches Überleben – einfach machen.

Wo ist KI bereits in unserem Leben integriert?

Überall. Sie steuert das Herz unseres Wirtschaftssystems. Sie macht in Mikrosekunden Milliardendeals an der Börse. Sie errechnet Preise für Hotelzimmer und Flugtickets. Sie analysiert MRT-Bilder am Krankenbett und führt schon das Skalpell in einigen OPs. Sie steuert Killerdrohnen in Kirgisistan. Und bald wird sie die Entscheidung über Leben und Tod, die sogenannte Kill-Entscheidung, eigenständig treffen. Das wünschen sich jedenfalls viele Militärs. Das ist eine extrem heikle Situation. Deswegen haben mehr als 10.000 Wissenschaftler, Experten und Journalisten – auch ich – eine Warnung vor KI in der Rüstung unterschrieben.

Ist KI nur gefährlich? Wo beeinflusst sie unser Leben auf positive Weise?

Das ist das Verhängnisvolle. KI ist der Schlüssel zum unendlichen Meer an Information, die wir unter der Überschrift Big Data sammeln. Ohne KI könnten Menschen diese Datenmengen nie sortieren oder auswerten. Sie hilft uns bei der Routenplanung unserer Reisen, bei der Ernährung, zum Beispiel bei der Planung von Diäten oder beim Dokumentieren des Kalorienverbrauchs beim Sport. Sie hilft bei Freundschaften in FB und bei der Fahndung des FBI. In der medizinischen Forschung kann sie grenzenlos Daten in Google-Größenordnung auswerten und wahrscheinlich Heilung für viele Krankheiten finden.

Gibt es einen Weg zurück? Können wir uns KI noch entziehen, wenn wir es wollten?

Es ist wie bei derAtombombe. Man kann eine schreckliche Erfindung nicht un-erfinden. Diesen Geist werden wir nie in die Flasche zurückkriegen. Wenn wir aber die Gefahren rechtzeitig erkennen, haben wir Optionen. Angesichts der Geschwindigkeit der KI-Entwicklung müssen wir allerdings schnell handeln, sehr schnell.

Man liest immer wieder, dass KI den Traum vom ewigen Leben wahr machen könnte 

Es gibt Anhänger der Künstlichen Intelligenz, darunter großartige Visionäre wie Ray Kurzweil, die davon überzeugt sind, dass man in nicht allzu ferner Zukunft unsere Intelligenz, und womöglich unsere Gefühle, in Computer uploaden kann. Ich persönlich halte das für unwahrscheinlich. Wenn eine Superintelligenz entsteht, die tausendfach klüger als die Menschheit ist, bin ich nicht so sehr davon überzeugt, dass sie sich um die Prioritäten der Menschheit scheren wird. KI wird eigene Wege gehen.

Welche Tipps würden Sie unseren Lesern mit auf den Weg geben?

Meine Tipps sind weniger für die Einzelperson. Unsere Gesellschaft muss sich mit diesem Phänomen beschäftigen. Wir dürfen uns nicht – wie bei Big Data – überrollen lassen. Unser demokratisches System ist in Gefahr, wenn Big Data überall abhören kann, wenn Drohnen über Staatsgrenzen fliegen und das internationale Völkerrecht verletzen. Bei KI geht es um viel mehr. Die Frage ist, ob sie unseren Rang an der Spitze der Evolution überholen wird und ob Evolution ohne uns weitergeht.

Ihr Resümee, Herr Tuck: Was bedeutet KI für uns Menschen – eher Segen oder Fluch?

Erst Segen. Dann Fluch.

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