Personalisierung ist derzeit einer der Megatrends im Marketing. Innerhalb von nicht einmal zwei Jahren hat sich ein Markt entwickelt, an dem es kaum mehr einen Weg vorbei gibt. Für Business-Kunden und Solutionanbieter gleichermaßen. Auf der Anbieterseite bauen fast alle Branchen-Riesen wie Adobe, Oracle, Salesforce, Microsoft, IBM ihre sogenannten Marketing-Cloud-Lösungen immer weiter aus, auf Seiten der Kunden sucht man zunehmend nach Antworten, wie man die neuen Möglichkeiten gewinnbringend einsetzen kann.

Schließlich haben private Nutzer meist schon am eigenen Leib erlebt, wie beeindruckend Personalisierung und Automatisierung sich anfühlen können, wenn man ins Empfehlungsmanagement von Amazon rutscht oder das eigene Smartphone einem ungefragt die Zeit von der Arbeit nach Hause berechnet. Und die neuen Möglichkeiten versprechen, dass dies alles nur der Anfang ist. Da wird es höchste Zeit, dieses Potential auch für die eigenen Kunden zu nutzen.

Viele der erwähnten Cloud-Lösungen bieten tatsächlich bis dahin ungeahnte Möglichkeiten. Kunden können damit relevanter, schneller und effizienter angesprochen und begleitet werden. Egal ob vor oder nach dem Kauf. Dennoch ist aus Sicht eines einzelnen Unternehmens Vorsicht geboten. Denn die Erfahrung zeigt, dass die erwünschte Personalisierung auf Dauer kein Marketingtrick bleiben kann. Die Entscheidung für eine solche technische Lösung ist nur der Anfang. Echte Personalisierung ist der ernsthafte Wunsch beziehungsweise die Absicht, sich mit einem Kunden individuell auseinandersetzten zu können. Und zu wollen! Dies ist nicht nur eine Aufgabe für Systeme und Maschinen, es ist vielmehr eine Aufgabe von Menschen und letztlich der ganzen Organisation.

Kunden ganzheitlich verstehen

Wenn man heute Unternehmen auf dem Weg in die Personalisierung begleitet, merkt man schnell, wo die Chancen, aber auch die Risiken liegen. Die arbeitsteiligen Strukturen, oft viele Jahrzehnte lang Garant für eine erfolgreiche Unternehmensführung, versperren in vielen Unternehmen heute den Weg, Kunden und Interessenten wirklich ganzheitlich zu verstehen und alles, was man über sie weiß, auch zielführend zu nutzen. Es klingt logisch und paradox zugleich: Um Kunden individuell relevant ansprechen und begleiten zu können, müssen immer mehr Menschen und Bereiche in Unternehmen barrierefrei zusammenarbeiten.

Dies gilt zum einen horizontal für Vertrieb, Marketing, Kundenservice etc. Es ist schließlich nicht nur aus Sicht der Kunden wenig sinnvoll, wenn sie zum Beispiel gerade online einen Handyvertrag abgeschlossen haben, und parallel ständig weitere inkompatible Angebote derselben Marke erhalten. Oder wenn im aufkommenden Omnichannel die Kunden weiter mit Fragen zur Ergänzung ihres Profils belästigt werden, sie aber im stationären Handel längst geschätzte Kunden sind.

Auch vertikal ist Integration gefordert: Einkauf, IT, Legal etc. sind gefragt, die nötige Infrastruktur, Daten und Systeme, sowie Rechtssicherheit zu implementieren. Woher sollte eine IT-Abteilung zum Beispiel wissen, welches System zu welcher Marketing-Strategie am besten passt? Der Markt für derartige Beratungsmandate, also Unternehmen fit für das Personalisierungszeitalter zu machen, boomt gerade. Aus inhaltlich konzeptioneller Sicht, aber auch aus einer organisatorischen Perspektive, die Barrieren abbaut und Unternehmen abteilungsübergreifend handlungsfähig macht.

Ist Personalisierung für das Unternehmen wirklich geeignet?

Aber die Herausforderung ist noch viel tiefgreifender: Wer sagt, dass konsequente Personalisierung für jedes Unternehmen geeignet ist? Wer sagt, dass es innerhalb einer Branche der entscheidende Wettbewerbsvorteil für das eigene Unternehmen sein wird? Unternehmen sollten sich vielmehr überlegen, ob sie wirklich dem Megatrend folgen wollen, und wenn ja, wie sie sich von Wettbewerbern differenzieren können. Ist der Wunsch, einen Kunden noch persönlicher betreuen zu wollen, wirklich in der DNA eines Unternehmens verankert, und daher wettbewerbsfähig, oder ist der Wettbewerb letztlich überlegen.

Im digitalen Zeitalter bedeuten Personalisierung und Automatisierung auch extremes Tempo und Interaktionsbereitschaft, die langfristig bewältigt werden müssen. Und diese Frage stellt sich nicht nur gegenüber „alten“ Wettbewerbern: Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Megatrend neue Wettbewerber auf den Plan ruft, die nicht viel von den traditionell erfolgsrelevanten Wettbewerbsvorteilen einer Branche verstehen, aber neue Faktoren wie etwa eine konsequente Personalisierung zum Mittelpunkt und entscheidenden Erfolgsfaktor eines Angriffs auf eine etablierte Branche machen…

Dieser Artikel wurde auf capital.de veröffentlicht.

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