Man stelle sich vor: Ein Geheimtipp von einem Restaurant wird quasi über Nacht von meinungsbildenden Gastronomie-Kritikern gehyped: „Alles tagesfrisch zubereitet! Jede Seezunge wird vom Chef persönlich ausgesucht! Jede Schalotte nach strengsten Regeln handverlesen! Ein völlig neues Geschmackserlebnis!“ Der Durchbruch. Die Mühe hat sich also doch gelohnt, ab jetzt wird – endlich mal! – richtig Geld verdient. Die Reservierungen steigen, es wird angebaut, Köche werden eingestellt, Zutaten en gros bezogen. Alles läuft nach Plan, die hoch gesteckten Ertragsziele werden erreicht – während diesen Zielen die unternehmerischen Werte nach und nach geopfert werden: Qualität und Innovation genießen am Ende die gleiche Wertschätzung wie angelaufenes Silberbesteck. Das Lokal wurde schließlich von einer sehr erfolgreichen Pizzeria-Kette übernommen. Tja, der Chef hatte sich auf einflussreiche, aber an kulinarischer Exzellenz nur mäßig interessierte Teilhaber eingelassen. So oder ähnlich verlaufen immer wieder Schicksale anfänglich wirklich ambitionierter Inhaber.

Gerade dann, wenn eine charismatische Unternehmerpersönlichkeit nicht mehr selbst alle Mitarbeiter und Partner erreicht, sind Unternehmen herausgefordert: Es muss ihnen gelingen, ihre Angehörigen auf gemeinsame Werte „einzuschwören“, zu einer Wertegemeinschaft zu machen. Werte sollen Umsatzzielen natürlich nicht im Weg stehen, sondern den Kraftstoff für dessen Erreichung liefern! Werte muss man natürlich wertschätzen, sonst kann es passieren, dass die Filiale einer Biomarktkette den Umsatzrückgang bei Wollsocken mit Wegwerfhandys kompensiert. Natürlich: Ziele sind wichtig. Ihnen substantielle Werte unterzuordnen ist aber eben gefährlich.

Klar, niemand will in Schönheit sterben, deshalb stellt sich immer wieder auch die Frage nach der „Strapazierfähigkeit“ von Werten. Wer zum Beispiel unter Aufbringung höchster, traditionell gewachsener heimischer Ingenieurskunst mit „Made in Germany“ wirbt, wird unter Umständen realisieren müssen, dass eine hundertprozentige Fertigungstiefe von seinen Kunden nicht mit der entsprechenden Zahlungsbereitschaft honoriert wird. Ein Wert ist eben doch nur so gut, wie seine Wettbewerbsfähigkeit.

Werte können schon an der Art und Weise, wie Ziele verfolgt werden, Schaden nehmen. Ein Spiel mit dem Feuer und zugleich eine Steilvorlage für das Ausbrüten kreativer Lösungsvorschläge bis hin zu wahren Mogelpackungen kann die – oft genug von Verzweiflung getriebene – Vorgabe „egal wie!“ bedeuten. Nehmen wir mal einen einst höchst renommierten Autobauer, der in seinen besten Zeiten gleich den ganzen Begriff „das Auto“ für sich reklamierte. „Das Auto“ darf sich seiner ökologischen Verantwortung natürlich nicht entziehen! Ohne Einbußen an Motorleistung selbstverständlich – hey, wir haben die besten Ingenieure der Welt! Ein Wertekonflikt, in dem sich Werte gegenseitig neutralisierten, bis „das Auto“ sich schließlich seiner auftrumpfenden Selbstbehauptung schämte und nun deutlich bescheidener auftritt.

Durch trickreiche Manipulationen und Schönredereien wandeln sich scheinheilige Werte zu wahren Unworten wie – in diesem Falle – „Greenwashing“ als bitterer Kommentar für die verbreitete Unernsthaftigkeit populärer Scheinbekenntnisse. Da scheinen dann auch mal starke, weil handlungsbestimmende Ziele durch schwache, weil ungeliebte Werte hindurch.
In der Kundenkommunikation genießen Werte einen höheren Stellenwert als Ziele: Ein Konsument wird sich weniger für die Ambitionen eines Anbieters auf Marktführerschaft interessieren als für dessen Reputation als Trendsetter. Dabei ist die Behauptung nur so authentisch, wie deren Bestätigung durch die Realität, die sich oft schon mit einem Mausklick offenbart. Gut beraten sei der Kommunikationsberater, der nach Werten fragt – und sie auch hinterfragt.

Soweit zu unternehmerischen Fehlentwicklungen. Aber auch im Ego-Marketing kommt es bisweilen zu horrenden Inkongruenzen: Es gibt prominente Beispiele promovierter Überflieger, denen ein Dr.-Titel wichtiger war, als den Gegenstand ihrer Dissertation wirklich durchdrungen zu haben. Die vielleicht schon als Schüler nicht wertzuschätzen vermochten, wie eine unregelmäßige Fläche zu berechnen sei oder Dativ von Genitiv unterscheiden zu können. Nun, wenn das alles beherrschende Ziel die Erreichung des Titels war, erreicht man – wenn das schließlich gelungen ist – mit höherer Wahrscheinlichkeit auch das nächste. In einem Fall war das der Fall, die Fallhöhe allerdings schwindelerregend. Der Absturz endete erst auf einem entfernten Kontinent.
Naja, hätte ja auch gutgehen können, oder? Hm. Blöd wär halt, wenn man mit dem Schwindel an sich selbst „gute“ Erfahrungen gemacht hat und die so manifestierte Charakterschwäche zu wenig werthaltigen aber umso zielgetriebeneren Entscheidungen führt.

Nachhaltig erfolgreich ist – und das gilt für Menschen wie für Marken – wer seine Werte kennt, pflegt und als Maßstab für die Bestimmung von Zielen und deren Erreichung nimmt.
Gute Beispiele? Dem Autor fallen da schon ein paar ein: Eine Münchener Brauerei, die eigentlich mit nichts anderem in Erscheinung tritt, als seit bald siebenhundert Jahren erfolgreich gutes Bier zu machen. Eine unbeirrbare, aber durchaus nicht unbelehrbare Bundeskanzlerin. Mein Schwabinger Friseur, der immer drei Wochen im Voraus ausgebucht ist. Der seit Jahrzehnten tagein, tagaus nichts anderes macht, als Haare schneiden. Der mich wahnsinnig macht, weil er keine E-Mail-Adresse hat. Und den ich gegen keinen Friseur der Welt eintauschen mag.