Mathias Becker

Director Experience Strategy, Plan.Net UX

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Ein Testbericht der lange erwarteten Magic Leap One Augmented Reality Plattform

Vor mir schwebt ein virtuelles Regal mit verschiedenen Objekten und Kategorien, die ich auswählen kann. Ich greife mit dem Controller nach einer kleinen Rakete, nehme sie aus dem Regal und platziere sie im Raum. Zack! Niet- und nagelfest steht das kleine Raumfahrzeug im Comic-Videospiel-Stil vor mir. Ich gehe drum herum und gucke mir das Ding von allen Seiten an.

Für meine Kollegen sehe ich ein bisschen aus wie Vin Diesel in Riddick. Leider nicht wegen der Muskeln, sondern dank der spacigen Brille, die ich trage: Das Headset der neuen AR-Plattform Magic Leap One. Ich hatte die Gelegenheit das neue System in der „Creator Edition“ nur wenige Tage nach Veröffentlichung in unserem Plan.Net Innovation Studio in München zu testen.

Das augmentierte Bild durch die Brille ist leicht durchsichtig, ich kann das Muster des Teppichbodens hinter der Rakete noch erkennen – zumindest wenn ich bewusst darauf achte. Die Farben sind hell und bunt, wie sie sein sollen – für einen kurzen Moment entsteht der Wunsch, die Rakete mit dem Finger anzufassen und sie anzustupsen. Immersion Level 1 wird fix erreicht.

Zwischenzeitlich hieß es, die Brille könne Bilder auf sechs verschiedenen Ebenen projizieren um in Verbindung mit dem Tracking der Augenbewegung Objekte in verschiedenen Schärfegraden darzustellen. Experten beschwerten sich bereits, dass die Hardware nun mit nur zwei dieser Ebenen ausgestattet sei, was die Wahrnehmung wesentlich schlechter werden ließe. Ich kann das nicht nachvollziehen, denn die Gesamtleistung der Grafik ist für meine Begriffe noch weit davon entfernt, Kapital aus diesen sechs Ebenen schlagen zu können. Noch sieht alles sehr Videospiel-mäßig aus und auch die Auflösung ist noch nicht so hoch, dass dieser Detailgrad in der Wahrnehmung bereits eine entscheidende Rolle spielen würde.

Die Rakete klebt da immer noch. „War’s das jetzt?“ frage ich mich. Ich klicke die Rakete an und „Woosh!“ düst sie davon. Keine Ahnung wohin, sie ist jedenfalls weg. Danach setze ich einem meiner Kollegen einen Cowboy-Hut auf und verpasse ihm einen Schnurrbart aus der Objekte-Bibliothek, die auch noch immer hinter mir im Raum schwebt. Zumindest so lange, bis er einfach geht und Hut und Schnurrbart alleine im Raum schweben. Spielverderber.

Aus der nächsten Kategorie der Bibliothek klaue ich mir einige Teile, mit denen ich fix eine Art Kugelbahn zusammenbauen kann. Ich kann aus allen Richtungen an meiner Konstruktion arbeiten, mich währenddessen mit meinen Kollegen unterhalten und ihnen dabei in die Augen blicken es ist als hätte ich nur eine Sonnenbrille auf und würde an einem Aufbau arbeiten, der sich zwar für die Gesetze der Physik nicht sonderlich interessiert, aber ansonsten recht realistisch auf mich wirkt. Jedenfalls erreicht das Ganze recht zügig ein routiniertes und selbstverständliches Level. Dann schnappe ich mir die Kugel aus der Bibliothek und höre ihr zu, wie sie durch mein Rohrsystem rumpelt, auf ein Trampolin fällt, durch den Raum fliegt und dank des Real-World-Trackings von einem echten Tischbein im Raum abprallt.

Ich sehe meine Kollegen an, strahle wie ein kleines Kind und sage: „Das ist der Hammer, oder?“. Die drei Kollegen gucken mich an, ihre Hände in den Hosentaschen, und zucken fast simultan mit ihren Schultern. Immersion Level 2! Nur ich sehe meine Kugelbahn – das hatte ich vergessen. Tatsächlich ein kleiner Nachteil – teilen lassen sich die Erlebnisse noch nicht ganz so einfach.

Die zweite App, die ich testen darf, dreht sich um die isländische Band Sigur Rós. Gemeinsam mit Magic Leap hat man sich fünf Jahre damit beschäftigt, wie man in der Mixed Reality Musik kreieren oder komponieren kann. Tónandi nennt sich die App und eignet sich hervorragend zum Testen der Steuerung durch Gesten – den Controller braucht diese App nämlich nicht. Die Aufgabe besteht darin, sich durch verschiedene Level oder Welten zu bewegen, die man mit Gesten zum Leben erweckt. Man sammelt zum Beispiel Steine, streicht durch virtuelles Gras und stupst virtuelle Quallen an. Hat man eine Szene mehr oder weniger komplettiert, entsteht eine Art Wurmloch, durch das man in die nächste Szene gelangt. Beeindruckend!

Die Vielfalt der Gesten der eigenen Handbewegungen ist ein riesiger Vorteil. Es gibt acht verschiedene, die das System erkennt. Entwickler können selbst weitere Gesten hinzufügen und entwickeln. Das ist aus meiner Perspektive ein riesiger Pluspunkt des Magic Leap Systems. Microsoft bietet im Vergleich derzeit nur zwei fest definierte Gesten. Als jemand der Oberflächen und Produkte der digitalen Welt entwickelt und immer getrieben ist vom Wunsch nach bestmöglichen Nutzererlebnissen und relevanten Produkten, interessieren mich die verschiedenen Möglichkeiten zur Implementierung verschiedener Gesten in diesem Kontext natürlich brennend. Denn ich bin davon überzeugt, dass die Benutzung eines Produktes als unmittelbar markenbildend betrachtet werden muss. Unsere Arbeit hat daher neben dem zufriedenen Nutzer auch die Aufgabe zum gewünschten Markenbild beizutragen. Durch Details wie eine sinnvolle Gestensteuerung werden Angebote wesentlich schneller angenommen und können viel früher zu sehr immersiven Erlebnissen werden.

Auch wenn die Gesten aktuell oft noch sehr unnatürlich in ihrer Anwendung sind, es noch schwierig ist selbstverständlich nach einem virtuellen Stein zu greifen und hohe Latenzen einen im Unklaren darüber lassen ob man nun erfolgreich zugegriffen hat oder nicht: Die Tatsache, dass Entwickler eigene Gesten entwickeln können, sorgt dafür, dass viel ausprobiert und experimentiert werden kann, um schnellstmöglich zu einer User Experience zu kommen, die die Bedienung der Extended Realities so natürlich wie möglich macht.

Fazit: Alles in Allem bietet die Magic Leap One in ihrer ersten Version ein Mega-Erlebnis und ist ein wichtiger Schritt in Richtung consumer-facing AR fürs Wohnzimmer. Die Hardware ist grundsolide, einige Details hat Magic Leap noch nachzuliefern. Der Gesamteindruck leidet am stärksten unter dem massiven Hype, den die Kommunikation der letzten Jahre aufgebaut hat. Denn diesen Traum kann die Creator-Edition noch nicht wirklich erfüllen. Es ist wie mit allen modernen Plattformen: Die Third Party Development Community ist nun gefragt. Sie wird uns zeitnah die tatsächlichen Potentiale der Plattform offenlegen und Magic Leap eine gute Unterstützung bei der weiteren Entwicklung von Hard- und Software bieten.

Und was kostet das Ganze? Wer sich eines der begehrten Geräte anschaffen möchte, muss in die USA und dort vor Ort umgerechnet knapp 2.000 Euro investieren. Hinzu kommt dann noch der Zoll bei der Einführung nach Deutschland.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst bei lead-digital.de.

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