Welches Bild schwebt uns vom Menschen in unserer auch digitalen Gesellschaft vor? Das Bild des mündigen Bürgers, der selbst für sein Tun verantwortlich ist – auch im Netz? Und der nicht so naiv ist, zu glauben, dass er grundlegende Services dort umsonst bekommt? Oder das Bild des vom Staat zu beschützenden Individuums, das durch das Netz und die Vielzahl seiner undurchschaubaren Angebote hoffnungslos überfordert wird und das man vor dem Web in Schutz nehmen muss? Oder, wie Jürgen Scharrer formuliert: Wieviel Tracking darf sein, um individualisierte Werbeansprache zu realisieren?

Wenn wir über den Umgang mit „Big Data in der Werbung“ reden – für mich steht Big Data in diesem Kontext als begriffliche Verkürzung für datengestützte Kommunikation –, geht es vor allem um Haltung. Die Haltung der Werber zu datengestützter Kommunikation und die Haltung der Bürger zum Umgang mit ihren persönlichen Daten. Reden wir erst über uns als Menschen und Bürger, nicht als Werber. Mit Vorliebe und beträchtlicher Energie regen wir uns auf über die Daten-Sammelwut der großen Konzerne, um kurz danach die Bilder vom letzten Urlaub auf Facebook hochzuladen und die ersten Weihnachtsgeschenke via Amazon Prime zu bestellen. Die AGBs der meisten Plattformen, die wir nutzen, bestätigen wir zwar, lesen sie aber gar nicht. Natürlich machen es einem die in seitenlangem Juristendeutsch verfassten Traktate nicht gerade leicht. Aber wer einfach ohne Lesen zustimmt, beraubt sich jeglicher Möglichkeit und somit auch der eigenen Mündigkeit.

Denn eben genau dort, wo die Daten in großem Maße erhoben werden, passiert dies auf einem legalen Fundament. Genau aus diesem Grund macht eine echauffierte Diskussion um Daten und den selbstbestimmten Umgang an dieser Stelle wenig Sinn. Wer durch eine Bestätigung seine Freigabe dafür erteilt, dass andere seine Daten sammeln, verwerten und vermarkten dürfen, hat rechtlich eine eindeutige Entscheidung getroffen. Danach zu philosophieren, ob das Verhalten der Konzerne nun verbraucherfreundlich ist oder nicht, kühlt zwar den eigenen Unmut, kommt aber wesentlich zu spät. Und hat vor allem auch keine rechtlichen Auswirkungen. Sind wir wirklich so naiv, dass wir glauben, kostenlose Services im Alltag ganz selbstverständlich nutzen zu können, ohne dass die Unternehmen das Wissen, das sie auf diese Art und Weise über uns anhäufen, für ihre auch finanziellen Zwecke nutzen? Ein Navi für das Auto war früher teuer, Google Maps gibt es heute zwar umsonst, aber natürlich auch nicht geschenkt. Das Recht auf Anonymität im Netz hat jeder Bürger. Er muss es nur selbst ausüben, denn keine staatliche Behörde wird sie ihm ohne sein eigenes Zutun garantieren können.

Daten sind in unserer immer weiter digitalisierten Gesellschaft ein hochwertiges Gut. Für manche sind sie sogar das Öl des 21. Jahrhunderts. Um Öl sind im vergangenen Jahrhundert Kriege geführt worden, da liegt es auf der der Hand, dass mit harten Bandagen um die besten Bohrlöcher gekämpft wird. Dabei geschieht dieses Datensammeln gar nicht gewaltsam, sondern immer mit unserem Einverständnis. Wann haben Sie sich das letzte Mal die Frage gestellt, ob es die Funktionalitäten der neuen App, die Sie sich auf das Smartphone laden, wirklich wert sind, dass die App Ihre Kontakte einsehen und Sie lokalisieren darf sowie Ihre persönlichen Login-Daten bekommt? Um unsere Mündigkeit zu bewahren, müssen wir Bürger uns künftig überlegen, welches Tauschgeschäft (Daten gegen Service) es uns wirklich wert ist.

So, und jetzt kommen wir als gern gescholtene Werber ins Spiel, die mit ihren „unsäglichen“ Retargeting-Kampagnen den Konsumenten verfolgen. Dabei sind die Bürger auch hier keineswegs wehrlos. Mit der europaweiten Initiative zur freiwilligen Selbstkontrolle der digitalen Werbewirtschaft für nutzungsbasierte Online-Werbung (Online Behavioral Advertising, OBA) kann heute jeder in zwei Klicks die Erfassung seiner anonymisierten Daten stoppen, sodass diese nicht mehr zur Werbeaussteuerung genutzt werden dürfen. Ganz ohne Adblocker.

„Die Werber interessiert die schillernde Oberfläche von Instagram & Co – die Mechanik dahinter interessiert sie nicht“, setzt Jürgen Scharrer als zweiten Vorwurf der Branche entgegen. Natürlich beschäftigen wir uns als Werber mit Google und Facebook. Auch mit Amazon, mit Otto und vielen anderen Dingen wie Marketing Automation, Programmatic Buying und datengestützter Kommunikation.

Darum stimme ich Scharrer zu, sofern er den Satz leicht verändert: „Die meisten Kreativen interessiert die Mechanik der neuen technischen Möglichkeiten nicht.“

Ja, viele Kreativagenturen haben keinen Bock auf eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den neuen Möglichkeiten datengestützter Kommunikation. Und ja, dieses Verhalten behindert die Entwicklung des Marktes nicht nur, es schadet ihr sogar. Und noch ein Ja: Es ist nur schwer zu verstehen, warum das so ist. Denn die neuen Chancen individualisierter Kommunikation ermöglichen es doch gerade für Kreative, spannendere Motive für spitze Zielgruppen und eine trennscharfe Ansprache der verschiedenen Konsumentengruppen zu entwickeln, statt weichgespülte Konsenskreationen für eine Zielgruppe 14 bis 49.

Big Data und Kreation dürfen in der Werbung kein Entweder-Oder sein, sondern müssen ein Miteinander werden. Auch in Zeiten von Programmatic Advertising ist der wesentliche Stützpfeiler einer erfolgreichen dynamischen Kampagne eine erstklassige Kreation. Und trotz aller technischen Hilfsmittel, die wir heute haben: Erst im zweiten Schritt können wir überlegen, wie sich die Technik einsetzen lässt, um die Kreation(en) so richtig zur Geltung zu bringen. Dass Maschinen und Technologie die kreative Entfaltung behindern, halte ich für einen Mythos, mit dem denkfaule Kreative ihr „Weiter so“ begründen wollen.

Die Diskussion um die Zukunft der Werbung findet heute keineswegs mehr nur in Cannes statt, sondern auch auf Fachkonferenzen für Programmatic Advertising und datengestützte Kommunikation. Nur dass bei Letzteren so gut wie nie Kreative zugegen sind. Es würde mich freuen, wenn ein paar von ihnen mal den Sprung wagen würden, mit den neuen technischen Möglichkeiten zu experimentieren. Und wenn einem die Ergebnisse dann nicht gefallen, kann man es ja immer noch lassen. Denn gerade so ein großes Thema wie Big Data sollte man nicht einfach so verschlafen.

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