Ich will alles und ich will es jetzt! Im Zuge der Corona-Pandemie haben die Menschen neue Ansprüche an ihre Arbeit entwickelt. Gerade die jungen Generationen wünschen sich heute berufliches Wachstum bei gleichzeitigem privatem Wohlbefinden, sie sind auf der Suche nach Selbstverwirklichung und Sinn. „Nowness Economy“ nennt Wolf Ingomar Faecks dieses Phänomen und rät: Wer als Unternehmen für Top-Talente langfristig attraktiv bleiben will, sollte fünf Handlungsprinzipien berücksichtigen und implementieren.

Rahmen schaffen zur kollegialen Selbstorganisation

April 2021 könnte man als Zäsur bezeichnen: Es ist der Monat, in dem in den USA ca. vier Millionen Arbeitnehmer:innen ihren Job gekündigt oder – anders formuliert – die sogenannte große Resignation (engl.: the great resignation) eingeläutet haben. Und laut einer Studie von Microsoft könnten es im Verlauf der kommenden Monate noch mehr werden – auch außerhalb der USA. Denn ca. 41 % der globalen Belegschaft zieht in Betracht, ihre: n Arbeitgeber:in zu verlassen. Die anrollende Kündigungswelle lässt sich unter anderem auf drei Beweggründe zurückführen:

Erstens haben viele Mitarbeiter:innen die Bindung zu ihrem/ ihrer Arbeitgeber:in verloren. Durch geringere oder rein onlinebasierte Interaktionen hat die Qualität des zwischenmenschlichen Austausches abgenommen. Dadurch fühlen sich viele Mitarbeiter: innen weniger gesehen, anerkannt und wertgeschätzt.

Zweitens hat die Pandemie die Ansicht der Arbeitnehmer:innen verstärkt, dass sie nur durch einen Unternehmenswechsel neue Fähigkeiten erlernen oder ihnen der nächste Karriereschritt offensteht. Wege zur Weiterbildung und zur Weiterentwicklung sehen sie im eigenen Unternehmen zum aktuellen Zeitpunkt und mit den derzeitigen Rahmenbedingungen nicht (mehr).

Drittens suchen Mitarbeiter:innen nach einem Jahr voller Veränderungen Möglichkeiten zur Neuausrichtung: Sie wollen nicht einfach in ihr altes Leben von vor der Pandemie zurückkehren, sondern die positiven Eigenschaften aus den letzten Monaten aufgreifen und den eigenen Lebensstil nachhaltig darauf ausgerichtet anpassen.

Zu diesen positiven Eigenschaften zählt unter anderem mehr Flexibilität hinsichtlich der eigenen Arbeitszeiten und Arbeitsabläufe. Denn aufgrund von Remote Work (dt.: dezentralisiertes Arbeiten) wird die tägliche Fahrtzeit zum Arbeitsplatz eingespart, die Planbarkeit des Arbeitstages erhöht und eine Vereinbarkeit von familiären und beruflichen Verpflichtungen besser ermöglicht. Dies erlaubt es den Arbeitnehmer:innen, sich verstärkt auf die Dinge in ihrem Leben zu fokussieren, die ihnen wirklich wichtig sind.

Daraus entsteht eine intrinsisch motivierte Nowness Economy (dt.: „Im Jetzt leben“-Wirtschaft). Statt Business as usual schlagen Arbeitnehmer:innen Lebenswege ein, die Selbstverwirklichung erlauben und Purpose stiften sollen. Berufsentscheidungen zugunsten von Sicherheit sollen nicht mehr auf Kosten wertvoller Lebenserfahrung gefällt werden. Damit sind sie nur noch mäßig bereit, Lebensqualität zugunsten von Karrieresprüngen aufzugeben. Vielmehr sollte eine Vereinbarkeit von beruflichem Wachstum und privatem Wohlbefinden gewährleistet sein: Arbeitnehmer:innen möchten im Jetzt von den neu entstandenen Freiheitsgraden profitieren, gleichzeitig heute schon das Morgen gestalten und dabei keine Kompromisse aufgrund beruflicher Gebundenheit eingehen.

Die Art und Weise, wie Unternehmen diesen Ansprüchen begegnen, wird sich darauf auswirken, wer bleibt, wer geht und welche neuen Arbeitnehmer:innen angezogen werden. Arbeitgeber:innen sollten somit die positiven Aspekte der letzten Monate nutzen und aus den Herausforderungen lernen, um für Top-Talente unter diesen Umständen langfristig attraktiv zu bleiben.

Um in diesem Kontext dem Zeitgeist der Nowness Economy zu begegnen, gilt es für Organisationen, fünf Kernaspekte zu berücksichtigen und zu implementieren:

1. Extreme Flexibilität statt alte Muster

Statt die gesamte Belegschaft zurück ins Büro zu ordern und in alte Muster zu verfallen, sollten Unternehmen spätestens jetzt die notwendigen Rahmenbedingungen für flexible Arbeitsmodelle schaffen. Dank moderner Arbeitsplatzbuchungssysteme und agilem Prozessmanagement können Fluktuationen in der Büroanwesenheit der Mitarbeiter:innen offengelegt werden. Damit wird den individuellen Lebensanforderungen der einzelnen Mitarbeiter:innen Tribut gezollt und zugleich wirkt man möglichen Peaks in der Büroauslastung entgegen. Folglich werden den Arbeitnehmer:innen die notwendigen Freiheitsgrade zugestanden, die Möglichkeit zur individuellen Handhabung der Büro- und Homeoffice-Zeiten gegeben und dadurch eine kontinuierliche Ausrichtung anhand der neuen Anforderungen der Nowness Economy sichergestellt.

2. Verbindung statt Differenzierung der physischen und digitalen Welt

Der Büroraum hört nicht mehr beim Büro auf. Damit geht die Verbundenheit zum Unternehmen weit über den physischen Arbeitsplatz hinaus. Entsprechend kann ein Eckpfeiler der Nowness Economy bedient werden, indem Führungskräfte ihren Fokus auf eine transparente Kommunikation legen. Dabei ist es elementar wichtig, dass Mitarbeiter:innen nicht nur mit digitalen Tools, sondern vielmehr mit einer digitalen Infrastruktur ausgestattet werden, die sie befähigt, an unternehmensinternen und -externen Diskussionen ortsunabhängig zu partizipieren. Folglich sollte sichergestellt sein, dass Zusammenarbeitsmodelle auch über unterschiedliche Zusammenarbeitskonstellationen hinaus möglich sind – unabhängig davon, wo die Mitarbeiter:innen sich physisch befinden. Entsprechend sollten Konzepte entwickelt werden und eine Tool- und Systemausstattung vorhanden sein, die Hybridsituationen erlauben und nicht behindern. So wird der Teamzusammenhalt auch über den physischen Raum hinaus gestärkt und sichergestellt, dass die Stimmen aller Mitarbeiter:innen gehört und berücksichtigt werden.

3. Employer Centricity statt optimierter Humankapitaleinsatz

Die Talentlandschaft hat sich verschoben und die Erwartungen der Mitarbeiter:innen haben sich verändert. Führungskräfte sollten sich in die individuellen Bedürfnisse jeder Gruppe in ihrem Unternehmen hineinversetzen und vom Onboarding über einen individuellen Karriereentwicklungspfad hin zu New-Work-Konzepten ein Umfeld schaffen, in dem jede:r Mitarbeiter:in sein/ihr Bestes zum Unternehmenserfolg beitragen kann und möchte. Somit gilt es, eine ganzheitliche Employer Experience innerhalb des Unternehmens zu implementieren, statt den Fokus rein auf die Optimierung der Ressourcenallokation auf unternehmensweite Projekte zu legen.

4. Freiräume zur Selbstverwirklichung statt einschränkende Handlungsvorgaben

Zwei Kernelemente der Nowness Economy sind zum einen der Drang nach Selbstverwirklichung und zum anderen das Bedürfnis nach Selbstbestimmung. Um diesen Aspekten als Arbeitgeber: in gerecht zu werden, bedarf es einer neuen Haltung hinsichtlich der Organisationsführung: Arbeitsweisen sollten für jedes Individuum innerhalb vorgegebener Rahmenbedingungen frei wählbar sein. Dafür braucht es jedoch einen neuen Führungsgedanken – Führungspersonen geben die grobe Marschrichtung vor und schaffen einen Rahmen zur kollegialen Selbstorganisation. So fördern sie einen fortwährenden Lernwillen und umfangreiche Mitgestaltungsmöglichkeiten, statt Mitarbeitermotivation einzuschränken.

5. Explizite Kulturarbeit statt implizites Kulturvakuum

Die Einführung von höheren Freiheitsgraden und hybriden Arbeitsmodellen werden einen elementaren Einfluss auf die zukünftige Organisationskultur nach sich ziehen. Es wird ein Kulturkonglomerat entstehen, das weniger auf Spontaneität als auf Planbarkeit basiert. Um diesem die gewünschte Authentizität zu verleihen und dadurch das Interesse der Mitarbeiter:innen zu wecken, sollten Unternehmen an Formaten zur aktiven Kulturgestaltung arbeiten, die das richtige Maß an Interaktionen schaffen. Dafür sollten Begegnungsumgebungen,
-möglichkeiten und -formate initiiert werden, um den Auswirkungen der Nowness Econonomy den nötigen Raum zuzugestehen und eine Entfaltung der damit einhergehenden neuen kulturellen Identität zu erlauben.

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die Art und Weise, wie Organisationen den neuen Anforderungen der Nowness Economy begegnen, an fünf Eckpfeilern festgemacht werden kann: Flexibilität, Freiräume, hybride Arbeitsformen, Mitarbeiter:innenzentrierte Organisationsformen und aktive Kulturarbeit. Denn nur so kann ein Zustand von Masseneinzigartigkeit statt -standardisierung erfolgen und sichergestellt werden, dass das Arbeitsumfeld Arbeitnehmer:innen befähigt, ihrer Selbstverwirklichung nachzugehen

Es darf also mit großer Wahrscheinlichkeit prognostiziert werden, dass es kein Zurück zum Zustand vor der Pandemie geben wird – oder zumindest geben sollte. Denn mit den veränderten Anforderungen der Mitarbeiter:innen werden Organisationen darauf angewiesen sein, von alten Standards abzuweichen und neue Verhaltensfreiräume zu schaffen. Weg von vorgegebenen Unternehmensrichtlinien wie festen Arbeitszeitvorgaben und Büropräsenz, hin zu flexiblen Arbeitszeiten und hybriden Arbeitskonzepten. Nur so wird es den Arbeitnehmer:innen ermöglicht, überall und in ihrem jeweiligen Lebenskontext ihr Arbeitsumfeld zu prägen und ihren Beitrag zur Gestaltung der Zukunft schon heute zu leisten.

Dieser Artikel erschien zuerst in TWELVE, dem Magazin der Serviceplan Group für Marken, Medien und Kommunikation. Weitere spannende Artikel, Essays und Interviews von und mit prominenten Gastautor:innen und renommierten Expert:innen lesen Sie in der achten Ausgabe unter dem Leitthema „A Human-driven Future: Wie der Mensch das digitale Morgen prägt“. Zum E-Paper geht es hier.

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