Ein neues Jahrzehnt ist immer ein guter Zeitpunkt, alte Zöpfe abzuschneiden und die wirklichen Visionen für die nächsten zehn Jahre zu skizzieren. Möchte man meinen, wenn man die – sicherlich nicht unbeabsichtigt – eher leisen, aber doch wahrnehmbaren Veröffentlichungen der letzten Tage und Wochen von Google genauer durchleuchtet. Denn was dort teilweise verklausuliert, teilweise recht harmlos beschrieben ist, ist nichts anderes als das Ende einer Ära und damit auch das Ende eines technischen Hilfsmittels, das die Funktionsweise des Internets, so wie wir es heute kennen, maßgeblich geprägt hat: das Cookie!

Jeder, der seinen Arbeitsplatz oder seine Berufung in der digitalen Welt gefunden und mehr als drei Monate dabei ist, weiß im Prinzip, was Cookies tun und was nicht, und hat damit eine ungefähre Vorstellung davon, was mithilfe von Cookies im Internet funktioniert – und was eben auch nicht, wenn es denn keine mehr gibt.

Einen kleinen Vorgeschmack, sozusagen die Druckwelle vor der eigentlichen Feuerwalze (wenn man es mal etwas martialischer ausdrückt), wie eine Welt ohne Cookies aussehen könnte, liefert uns seit ein paar Monaten Firefox. Hier wurde – ebenfalls still und leise – beschlossen, dass Cookies zur dunklen Seite der Macht gehören und dem nach Privacy suchenden User eigentlich immer ein Dorn im Auge sind. Deswegen wird das Cookie seit Version 69 in den Standardeinstellungen des Browsers geblockt. Bemerkenswert ist das schon allein aus zwei Gründen:

  1. Firefox hat – zumindest in Deutschland – eine Verbreitung von ca. 25 Prozent. Wir sprechen hier also nicht von einer kleinen Nische, sondern von einem Viertel der deutschen User, denen quasi per Default die Entscheidung abgenommen wurde, ob man nun gerne zur Refinanzierung des Internets durch zielgerichtete Werbung beitragen möchte oder nicht. Dass hier die Antwort des Users, hätte man ihn gefragt, wohl ähnlich aussehen würde – nämlich „Nee danke“ – stelle ich nicht in Abrede; dass aber die Konsequenz der No-Cookie- Policy leider nicht weniger sondern mehr und dafür wohl eher wieder schlechtere Werbung sein wird, ist, fürchte ich, den wenigsten Usern und wahrscheinlich auch den Entwicklern von Firefox so nicht bewusst. Die einfache Wahrheit verfängt eben immer am besten.
  2. Was aber auf den zweiten Blick noch viel interessanter und auf die Strecke wohl quasi revolutionär wirken wird, ist die Tatsache, dass der Browser sich zur regelnden Schnittstelle aufschwingt, die in Zukunft darüber entscheidet, welche Daten Advertisern, Publishern und Agenturen zur Verfügung gestellt werden und welche nicht.

Lassen Sie das mal eine Sekunde sacken. Das ist so, als ob ab morgen nicht mehr der Staat sagt, ob Sie ein Visum für die Einreise in ein Land brauchen und definiert, welche Dinge Sie für den Erhalt dieses Visums angeben müssen, sondern die Fluggesellschaft, mit der Sie dieses Land anfliegen. Der Browser mutiert von einer Plattform, die Zugang gewährleistet, zum Zöllner, der entscheidet, welche Informationen in welcher Form an wen zur Verfügung gestellt werden!

Nun kann man sagen: Ist ja nicht schlimm, der User kann ja einen anderen Browser nutzen, wenn ihm das nicht passt und außerdem tut der Browser doch eigentlich etwas Tolles – er verhindert, dass ich ausgespäht werde.

Nun ja, ist das wirklich so?

Jetzt sind wir wieder am Anfang meiner kleinen Exkursion: Google hat letzte Woche in unterschiedlichen Arbeitskreisen verkündet, wie sie sich die Zukunft von Chrome und dessen Weg mit Cookies umzugehen oder nicht mehr umzugehen, vorstellen. Hier sprechen wir nicht mehr von 25, sondern von 45 Prozent des deutschen Marktes. Heißt, wenn Chrome hier eine Umstellung vornimmt, nimmt quasi der Markt eine Umstellung vor.

Und diese Umstellung hat es in sich: Heute braucht Google das sogenannte Third Party Cookie, also den pseudonymen Identifier, der sowohl ein für Google äußerst relevantes Geschäftsmodell, nämlich das Google Display Network, darstellt, aber auch die gesamte Online-Werbewelt, so wie wir sie heute kennen, am Leben hält. Deswegen sagen sie auch, dass sie daran auf jeden Fall noch zwei Jahre festhalten wollen.
ABER – und das ist ein großes ABER: Parallel entwickelt Google eine Alternative zum Cookie – die sogenannte Privacy Sandbox. Ohne sich wirklich in die Karten schauen zu lassen, ist klar: Das Ziel ist, auch hier den Browser als Privacy-Polizei zu etablieren, der dann entscheiden wird, welche Informationen über den User bzw. die Website, die ein User besucht hat, weitergegeben bzw. für Targeting genutzt werden darf.

Das heißt gleichermaßen, dass auch hier Google seinem Silogedanken weiter Vorschub leistet, denn damit wird aus Chrome ein abgekapselter Teil in der Android-Google-Welt, in dem davon auszugehen ist, dass Advertiser und User, die sich mit ihren Daten für Google öffnen, entsprechend profitieren werden. Diejenigen, die dies nicht tun, werden wohl eher abgestraft, sei es mit weniger Targeting-Möglichkeiten für den Advertiser oder mehr und schlechterer Werbung für den User.

Neuer Standard im weltweiten Internet ohne Cookies

Nun kann man sagen: Das ist ein Anbieter, und der Markt wird sich die Möglichkeit erhalten, ein alternatives System daneben zu etablieren. Doch diese Initiative wird mitgetragen vom W3C (World Wide Web Consortium) und findet klare Unterstützung unter Datenschutzbehörden mit der klaren Vorstellung, nicht nur eine Chrome-Lösung zu etablieren, sondern einen neuen Standard im weltweiten Internet ohne Cookies.
Ist solch ein technischer Umbau der Fundamente der Internetwerbung sinnvoll und richtig?
Sind wir ehrlich und zitieren unsere Bundeskanzlerin: Sie sind wohl alternativlos, wenn die Industrie unter den Rahmenbedingungen der DSGVO weiter wachsen und mehr User-Akzeptanz gewinnen will.

Und was bedeutet das nun für die Branche?

  1. Das Third Party Cookie wird sterben!
    Und zwar schneller, als wir es für möglich gehalten haben. Wir alle müssen auf die Suche nach Alternativen gehen, denn ohne Cookie werden wir nicht weniger, nur schlechtere Werbung bekommen! Um dies zu verhindern, müssen auch wir uns wieder neu erfinden: neue Targeting-Möglichkeiten, andere Wege der Ansprache, andere Effizienzkriterien in der Bewertung – wir fangen in Teilen quasi wieder von vorne an.
  2. Der Browser wird zum Gatekeeper!
    Ob es uns gefällt oder nicht, der Browser wird seine Rolle in der technischen Kette – nennen wir es mal diplomatisch – „aufwerten“.  Was dazu führen wird, dass wir sehr genau verfolgen müssen, inwieweit die Browser die Neutralität, die sie heute noch vorgeben, auch in Zukunft für sich in Anspruch nehmen dürfen oder ob sie mehr und mehr zu einer vielleicht versteckten aber absolut relevanten Wirtschaftsstufe im Ökosystem werden.
  3. Die Wettbewerbsbehörden sollten hinschauen!
    Es klingt ja immer so ein bisschen beleidigt, wenn man nach der Behörde ruft wie nach dem Schiedsrichter. Aber hier macht es wohl Sinn, genauer hinzusehen, wenn ein sowieso schon in Teilen marktbeherrschendes Unternehmen wie Google sich nun auch noch den Browser zunutze macht, um Datenströme nach eigenem Gusto zu regulieren, um eventuell denjenigen besseren Zugang zu gewähren, die auch mit den anderen Teilen im Konzern vertrauensvoll zusammenarbeiten. Da ist es keine Verschwendung, zweimal hinzuschauen.
  4. Mehr Kooperation statt Silodenke.
    In all unseren Geschäftsmodellen müssen wir in einen Prozess kommen, an dem alle Marktteilnehmer mitwirken können und nicht durch wenige große Player in informellen Zirkeln abgestimmt werden. Der TCF, das Transparency and Consent Framework des IAB, ist hier sicherlich als ein hervorragendes Beispiel zu erwähnen: Hier wurde ein Framework gemeinsam entwickelt – unter Mitarbeit der großen „Silos“, der Publisher und der Agenturen.

Grund, schwarz zu sehen?

Nein, aber ein guter Grund für uns alle, sich zu involvieren: in Verbänden, in Interessengruppen, im eigenen Unternehmen – gemeinsam mit Kunden und Marktbegleitern.
Wir müssen einen Weg finden, wie wir auch in Zukunft Geschäftsmodelle erhalten, einzelne Player nicht noch mehr zu Monopolisten wachsen lassen und gleichzeitig dem User ein Surferlebnis ermöglichen, das seine Privatsphäre schützt und trotzdem nicht in die späten 90er zurückfallen, in denen die Onlinewelt definitiv nicht besser ist.

Als Agentur werden wir damit umgehen müssen, genau wie alle Advertiser und Tech-Anbieter. Sei es durch Wiederentdeckung fast ausgestorbener Targeting-Möglichkeiten wie Contextual Targeting, sei es durch verstärkte Kooperation mit First Party Ownern wie Publishern und Verlagen, oder sei es der vermehrte Einsatz von Content-Integrationen und -kooperationen.

Sicher ist, dass Werbung im Netz nicht sterben wird, dafür ist der Kanal zu relevant und die Nutzung inzwischen zu dominant. Advertiser können und wollen auf die Ansprache der unterschiedlichen Zielgruppen nicht verzichten. Ob sie in Zukunft mit der gleichen Qualität und Quantität angesprochen und abgeholt werden können, bleibt abzuwarten. Meine These: Das wird eher nicht der Fall sein, aber der User hat so entschieden, also wird er mit der Konsequenz leben.

Willkommen neues Jahrzehnt, wir haben etwas vor!

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