Silicon Beach – die Medienrevolution der Technologiekonzerne

Was steckt hinter den beeindruckenden Content-Investitionen von Apple, Amazon, Google und Co.? Tim Stickelbrucks dechiffriert die Strategien der Tech-Giganten.

Ob „House of Cards“, „Stranger Things“, „The Man in the High Castle“, „Planet of the Apps“ oder „Mozart in the Jungle“, all diese Stunden vor Bildschirmen unterschiedlichster Größe verdanken wir einer neuen Medienmacht. Die Summen, die dabei bewegt werden, sind kaum vorstellbar und stellen alles in den Schatten, was wir von den bereits wenig zurückhaltenden Budgets der Hollywood-Studios kennen. Nach Videostreaming-Pionier Netflix greifen die großen digitalen Plattformen von Amazon, Apple und Google mit YouTube in das Geschäft mit eigenem Premium-Content ein. Nachdem die meisten bereits mit der Einstiegsdroge Musik ihre Erfahrungen im lukrativen Vertrieb von Inhalten auf ihren Plattformen gemacht haben, ist die Produktion von exklusivem Bewegtbild die Königsdisziplin der Zukunft. Mit unterschiedlichen Strategien, aber allseits prall gefüllten Geldbörsen überrollen die Technologiekonzerne aus dem Silicon Valley die altehrwürdige Film- und TV-Produktionslandschaft. Ihre Budgets für eigene Inhalte liegen nach seriösen Schätzungen jeweils im mittleren einstelligen Milliardenvolumen jährlich und übertreffen damit die Investitionen von traditionellen TV-Sendern, wie zum Beispiel HBO, um ein Vielfaches. Mit ihren neu eröffneten Repräsentanzen in Los Angeles entsteht dort unweit des Pazifikstrandes das neue Medienzentrum der Welt: Silicon Beach.

Wer dachte, diese Firmen können nur programmieren und Endgeräte zusammenschrauben, hat sich böse verkalkuliert. Amazon und Netflix gewinnen schon jetzt Oscars und Emmys für ihre Eigenproduktionen und beweisen, dass sie das Geschäft, relevante und packende Inhalte selbst zu generieren und nicht nur zu lizenzieren, bestens beherrschen. Ein stetig wachsendes Publikum bestätigt ihre Strategie. Aber noch wichtiger ist, dass sie die Art und Weise, wie wir heute Video-Content konsumieren, nachhaltig verändert haben: hin zum Binge Watching, also dazu, eine TV-Serie am Stück zu sehen, unabhängig von Ausstrahlungskalendern, jederzeit anzuhalten und größtenteils werbefrei. Und das ist nur der Anfang. In den Entwicklungszentren entstehen derzeit Technologien, die unseren Umgang mit den laufenden Bildern wohl mindestens so sehr verändern werden, wie es seinerzeit die Erfindung der Fernbedienung oder des Videorekorders getan hat.

Die Strategien der Tech-Giganten

So lukrativ das Geschäft mit diesen Inhalten sein mag, dahinter steckt, wenig überraschend, eine Agenda, die mehr umfasst. Wenn sich Tim Cook, CEO von Apple Inc., mit den Worten zitieren lässt: „Eigene exklusive Inhalte sind eine großartige Chance für uns“, hat das vor allem einen Hintergrund: die Stärkung des Apple Eco-Systems, also der Inhalte, die nur Nutzern von Apple Produkten zur Verfügung stehen. Kunden sollen also dorthin überführt oder dort gehalten werden, sprich Apples hochprofitable Endgeräte kaufen. Das US-Branchenmagazin Vanity Fair nennt den Einstieg von Apple hochdramatisch bereits eine „Kriegserklärung“. Denn selbstredend ist dies auch der Ansatz von Amazon, Facebook und Google, wobei Letztere sich, zumindest was den Ansatz der Content-Strategie betrifft, deutlich absetzen. Einerseits führt der Pionier und Weltmarktführer für Video-on-Demand mit dem simplen Produktnamen YouTube TV für viele überraschend in immer mehr Märkten einen Service zur Nutzung von linearen TV-Kanälen auf seiner Plattform an. Ein Angebot, das sich in erster Linie an die junge Generation der sogenannten Cord Cutter wendet, ein Publikum, das es ablehnt, lineare TV-Kanäle nur über Kabel oder Satellit zu empfangen, sondern sie in bestem Neudeutsch „screen agnostic“, sprich unabhängig von langfristigen Verträgen auf wechselnden Endgeräten vom Smartphone bis zum Wohnzimmer-TV, konsumiert. Zum anderen investiert Google für seinen abonnementpflichtigen Service YouTube Red auf Augenhöhe mit seinen Wettbewerben ebenfalls mit millionenschweren Budgets in Eigenproduktionen. Doch sehr viel faszinierender ist YouTubes Ansatz, weltweit eigene Produktionsstudios zu eröffnen. Die sogenannten YouTube Spaces bieten kostenfrei qualifizierten Videoproduzenten Zugang zu professionellen Produktionsmitteln, Weiterbildung und Workshops. Selbstredend liegt einer dieser YouTube Spaces im Herzen von Silicon Beach in Los Angeles, aber hier wird international gedacht. Weitere Ableger befinden sich in London, Tokio, New York, Berlin, São Paulo, Mumbai, Toronto, Paris, bald auch in Dubai, und das ist sicher nicht die letzte Station. In diesen Zentren entstehen nicht nur exklusive Videos, sondern eine eigene Kultur. Die neue Generation der „Do It Yourself“-Videoproduzenten wird so in die Lage versetzt, hochprofessionelle Inhalte zu schaffen. Das ist unter anderem eine essenzielle Abwehrstrategie gegen einen weiteren Neuankömmling am Silicon Beach: Facebook. Mit seinem noch jungen Büro im weltweiten Entertainmentzentrum positioniert sich der Social-Media-Gigant als neuer Player im Original-Content-Geschäft. Nick Grudrin, VP of Media Partnerships, beschreibt die Strategie so: Mit einer ausgewählten Gruppe von Produzenten will man den Grundstein für ein umfassendes Videoangebot rund um die Themen Sport, Comedy und Gaming etablieren. Aber ähnlich wie bei YouTube steht schon jetzt der Endkonsument als potenzieller Produzent im Mittelpunkt. Denn die Live-Video-Funktionalität von Facebook ist einer der großen Wachstumstreiber der Plattform.

Die Agenda der Visionäre

Technologiekonzerne geben sich nicht damit zufrieden, mit der Eigenproduktion von traditionellen Inhalten Anreize zum Verbleib oder zum Wechsel in ihre Eco-Systeme zu geben. Wohin also treibt uns die Zukunft, was werden die Innovationen der nächsten Jahre bringen? Mit der neu gewonnen kreativen Gestaltungsfreiheit über die Inhalte können die Tech-Konzerne nun auch erstmals sinnvoll völlig neue Angebote gestalten, diese mit neuen technischen Möglichkeiten erweitern und damit Nutzer weiter in ihren Kosmos ziehen.

AR/VR

Allen voran reden wir von Technologien wie Augmented Reality (AR) und Virtual Reality (VR), beides zunehmend populäre Trägermedien, um beeindruckende erfahrbare Interaktion mit Inhalten und natürlich auch Marken zu schaffen. Im Fall von AR werden dabei virtuelle Elemente mit realen Erlebnissen zum Beispiel über einen Bildschirm oder spezielle Brillen überlagert, bei VR wird dem Nutzer, ausgerüstet mit Helmen, Datenhandschuhen etc., eine komplett von der Realität losgelöste Erfahrung ermöglicht. Exemplarisch ein Blick auf zwei der Platzhirsche: Apple will den Markt für AR, der mit sensationell erfolgreichen Spielapplikationen wie Pokémon GO nur angedeutet wurde, zukünftig kontrollieren. Facebook wiederum hat sich mit seinen Investitionen in den VR-Headset-Hersteller Oculus Rift schwerpunktmäßig dieser Technologie verschrieben. Unabhängig davon kann man erwarten, dass beide ihre zukünftigen Content-Produktionsressourcen dazu nutzen werden, optimale Erlebnisse für ihr präferiertes Nutzungsszenario zu generieren.

Stimmerkennung

Ob Apples Siri, Amazons Alexa, Microsofts Cortana oder der Google Assistant, alle unsere Gadget-Hersteller gehen davon aus, dass wir zukünftig mit ihren Maschinen in hohem Maße per Stimme interagieren werden, nicht per Tastatur oder Touch-Eingabe. Die anfangs belächelte Technologie, die viele von uns schon mal im missverstandenen Dialog verzweifeln oder mit hoher Wahrscheinlichkeit leicht ungehalten werden ließ, hat eine beachtliche Weiterentwicklung hinter sich. Hier eröffnen sich völlig neue Möglichkeiten, Inhalte zu steuern und mit ihnen zu spielen, wenn Content-Produzenten und Entwickler gemeinsam neue Nutzererlebnisse schaffen.

Die Relevanz für Marken

Unbestritten hat die Veränderung der Machtverhältnisse im Mediengeschäft unmittelbare Auswirkungen auf die werblichen Umfelder für Marken und werbungtreibende Unternehmen. Wer jetzt weiß, wie Medien zukünftig konsumiert werden, kann frühzeitig intelligente Reichweitenstrategien aufbauen. Dabei werden die Anforderungen zunehmend komplexer.

Einerseits besteht die Möglichkeit, mit AR- und VR-Technologien hochemotionale Markenerlebnisse zu schaffen. Die Studien für das Nutzerengagement in Kampagnen, die auf erweiterte Realität setzen, sind mehr als positiv und übertreffen in den Punkten Emotionalität und Authentizität das klassische TV-Medium weit. Entsprechend haben Big Spender wie Coca-Cola und McDonalds, aber auch der innovationsgetriebene Premium-Automobilmarkt mit Marken wie BMW, Mercedes-Benz und Volvo hier schon eigene Projekte realisiert. Die Herausforderung ist in der Zukunft, die neuen Möglichkeiten zu nutzen, die sich daraus ergeben, dass große digitale Plattformen nicht nur diese technischen Innovationen, sondern eben auch einen großen Teil der Inhalte produzieren.

Auf der anderen Seite navigieren sich Nutzer zukünftig vermehrt mit Sprachbefehlen ohne weitere Unterstützung eines Bildschirms durch ihre Medienangebote. Hier werden Unternehmen, die in diesem Kontext gefunden und erlebt werden wollen, Wege finden müssen, nicht nur ihre Marke hörbar zu machen, sondern ein integriertes Markenerlebnis zu schaffen.

Eines ist sicher: Die Zukunft hat bereits begonnen. Die klassische TV-Nutzung von gestern ist einem hoch fragmentierten Videokonsum auf unterschiedlichsten Plattformen und Endgeräten gewichen. Die Schwergewichte der Technologiebranche sehen hier ganz offensichtlich ihre große Chance, ihre jeweiligen Plattformen zu stärken, und werden dabei auch die Art und Weise, wie wir zwischen den Inhalten navigieren und mit ihnen interagieren, völlig neu definieren.

Illustration: Mario Wagner

Tim Stickelbrucks

Managing Partner Saint Elmo’s Entertainment Los Angeles LLC

Tim Stickelbrucks hat an der Schnittstelle zwischen Musikindustrie und Markenkommunikation die erste digitale Transformation in der Medienwelt begleitet und dabei unter anderem Unternehmen wie Philip Morris, Apple und BMW in ihren Audiostrategien beraten. Heute ist er Managing Partner der Spezialagentur für Content Marketing und des strategischen Musikkompetenzzentrums für Markenkommunikation. Dort werden Lösungen für Marken realisiert, die mithilfe von Entertainment-Inhalten wie Musik und Video Kunden gewinnen und halten wollen. Inmitten von Silicon arbeitet er mit seinem Team am Puls der aktuellen Entwicklungen der Content-Industrie. Das Herzensthema des Wahl-Angelenos ist und bleibt Musik, ob professionell auf der Suche nach den neuesten Trends oder ganz privat. Für den persönlichen Musikgenuss setzt Tim inzwischen wieder ganz analog auf die Audioqualität eines traditionellen Plattenspielers.

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