Street-Art: Die Kunst der Veränderung
Street-Art hat die Kunstszene revolutioniert, zeichnet das Porträt vieler Städte neu und stößt rund um den Globus im Großen wie im Kleinen Veränderungen an. Keine Kunstform steht mehr für unser heftübergreifendes Thema „Change“.
Sie leuchtet uns von Hauswänden und Mauern entgegen, erweckt graue Betonpfeiler zum Leben, beschert tristen Trafostationen und Bauzäunen unerwartete ästhetische Qualitäten und überrascht an den ungewöhnlichsten Orten. Street-Art ist unangepasst, experimentierfreudig und gilt vielen als die lebendigste und fantasievollste Kunstform der Gegenwart. Kaum etwas verkörpert zudem den Topos der Veränderung auf so vielfältige Weise wie Straßenkunst. Ganz in diesem Sinne erklärte die Street-Art-Ausstellung „Magic City – die Kunst der Straße“, die im Frühjahr und Sommer 2017 im Münchner Olympiapark Station machte: „Street-Art kann graue Mauern bunt machen, Mauern einstürzen lassen, ein Versprechen geben auf Wandel, auf eine bessere Zukunft, schreien, flüstern, provozieren, auf neue Gedanken bringen oder einfach nur Freude machen“. Besser kann man es nicht auf den Punkt bringen.
Veränderung des städtischen Raums
Street-Art setzt in den Metropolen der Welt, wie New York, Berlin, London, Melbourne oder Buenos Aires, optische Akzente im Stadtbild. Auch viele kleinere Städte, wie Marseille, Belfast, Rotterdam, Mannheim oder Thessaloniki, gelten als echte Street-Art Hotspots – sie bekamen durch die Straßenkunstwerke einen ästhetischen Facelift oder überraschten, wie in Granada, mit einer neuen, bislang unbekannten Seite.
Geburtsort der Straßenkunst ist, wie sollte es anders sein, New York, wo in den 1960er- und 1970er-Jahren ein wahrer Graffiti-Boom ausbrach. In den 80-ern platzierten dann Star-Künstler wie Keith Haring und Jean-Michel Basquiat großflächige Kunstwerke auf Häuserwänden. Während sich die Pioniere der Street-Art noch auf Mauern und Eisenbahnwagen konzentrierten, haben die Künstler von heute ihren Aktionsradius auf die ganze Stadt ausgeweitet. Mit verblüffenden 3-D-Illusionen, Skulpturen und Miniaturarbeiten, monumentalen Wandgemälden und multimedialen Installationen erobern sie den gesamten urbanen Lebensraum – und verändern damit das Stadtbild. Beim Urban Knitting etwa werden Laternen, Straßenpfosten, Brückengeländer oder Baumstämme mit fröhlich bunten, gestrickten Accessoires versehen bzw. komplett eingestickt. Beim Adbusting (aus engl. „Advertising“ und „to bust“: sprengen) wiederum wird Reklame verändert, indem man sie überklebt oder ihre Message verfremdet.
Street-Art-Künstler wollen die Passanten durch Veränderungen im Stadtbild überraschen. Einfallslose Architektur, Mülleimer, Stromkästen, trostlose Unterführungen, Baugerüste – die ästhetischen Zumutungen des Urbanen werden durch deren fantasievolle, humorvolle oder provokative Kunstwerke nicht nur ästhetisch aufgewertet, sondern mit Inhalten aufgeladen, die die Menschen je nach Intention des jeweiligen Schöpfers zum Staunen, Lachen oder aber zum Nachdenken bringen. Die üblichen Dinge im Stadtbild bekommen neben ihrer eigentlichen so eine zusätzliche Funktion und stellen damit bewusst die Gestaltung heutiger Stadträume infrage.
Veränderung der Kunst-Rezeption
Street-Art hebt die bisherige strikte Trennung zwischen städtischem Alltag und seiner Infrastruktur einerseits und dem Erleben von Kunst in einem klar definierten Umfeld andererseits auf. Die oft unterhaltsamen oder auch politisch motivierten Werke können einem überall begegnen, nur nicht am angestammten Schauplatz für Kunst: im Museum. So wird Kunst für jeden Menschen zugänglich. Sie lässt sich anders und überall erleben, beiläufig, zufällig, sprichwörtlich im Vorübergehen. Die Schwellenangst, die manche von einem Museumsbesuch abhält, kommt bei dieser Kunstform nicht zum Tragen. So erreicht Street-Art Menschen jeglichen Alters, aus allen sozialen Schichten, verschiedenster Herkunft und jedweden Bildungsgrades.
Street-Art entdeckt man auf dem Weg ins Büro, in die Schule, zum Supermarkt oder während man auf den Bus wartet. In der Hamburger Innenstadt etwa initiierten Künstler eine kleine Street-Art-Interventionsreihe: Mit Kreide teilten sie die Wartebereiche verschiedener Bushaltestellen in zwei Felder ein, die die Wartenden dazu aufforderten, sich für eines der beiden Felder zu entscheiden, z. B. „Ich liebe Tiere“ oder „Ich liebe Fleisch“. So zieht Straßenkunst die Menschen für einen kurzen Moment aus ihren Gedanken oder der täglichen Routine heraus und animiert sie, sich mit dem Kunstwerk und der Botschaft dahinter auseinanderzusetzen. Ein Gedankenanstoß „to go“ sozusagen.
Die Idee der Hamburger Künstler zeigt, dass Street-Art Veränderungen bewirkt, aber auch selbst Veränderungsprozesse durchläuft und nicht für die Ewigkeit geschaffen ist. Straßenkunst ist meist eine Kunstform für den Moment oder eine beschränkte Zeitspanne, die nicht unbedingt durch den Künstler festgesetzt wird. Wie ein Kunstwerk sich verändert und wann es wieder verschwindet, darüber entscheiden oft städtische Putzkolonnen, Wind und Wetter und manchmal auch die Abrissbirne.
Veränderung der Gesellschaft
Kunstwerke im öffentlichen Raum verändern unser Bild von der Stadt. Sie können aber genauso Veränderung einfordern. Anders als bei klassischem Graffiti geht es den Künstlern heute in ihrem Schaffen nicht um das Markieren eines Reviers durch sogenannte „Tags“. Ihre Arbeiten sind häufig vielmehr Statements zu aktuellen sozialen und politischen Themen und Inhalten im urbanen Raum. Der litauische, in Malaysia lebende Künstler Ernest „ZACH“ Zacharevic zum Beispiel protestiert mit seinem Street-Art Projekt „Splash and Burn“ gegen die Zerstörung der Natur. Während des arabischen Frühlings verwandelten ägyptische Street-Art-Künstler ganze Straßenzüge im grau betonierten Kairo in eine farbenfrohe Open-Air-Galerie. Die Straßenkünstler, wie die Grafikdesignerin und Kunsthistorikerin Bahia Shehab, deren Arbeiten danach unter anderem in Galerien in Deutschland, China und Italien präsentiert wurden, wollten mit ihren Mitteln die Revolution unterstützen und etwas für den demokratischen Wandel tun. So wie in Kairo wurden überall in der arabischen Welt, ob in Tunis, Alexandria oder Tripolis, Mauern und Gebäude zu Leinwänden, auf denen Straßenkünstler ihrer Forderung nach Reformen künstlerisch und unwiderstehlich Ausdruck verliehen. Die gebürtige Polin und Wahlamerikanerin Agata Oleksiak alias Olek, lenkt die Aufmerksamkeit der Menschen seit zehn Jahren mit grell-bunten Häkelarbeiten auf die Probleme der Welt, sei es Umweltverschmutzung, Menschen- und Frauenrechte oder Donald Trump. Für ihre Kunstwerke verschwinden Autos, ganze Wohnungen, sogar lebende Menschen unter Häkelgarn. Selbst dem berühmten Wallstreet-Bullen (siehe unser Cover) zog sie ein gehäkeltes Fell mit knallig-pinken Flecken über. Wie Olek setzen Street-Art-Künstler rund um den Globus Zeichen gegen Diktatur, Ungerechtigkeit, Rassismus und Sexismus. Die Kunst der Veränderung – für eine bessere Welt.
Veränderung, „Change“, ist das Thema, dem wir diese TWELVE-Ausgabe gewidmet haben. Und wie immer wollen wir unser Leitthema nicht nur mit inspirierenden Textbeiträgen umsetzen, sondern auch in einer außergewöhnlichen optischen Gestaltung transportieren. Aus diesem Grund haben wir neben Olek weitere spannende Street-Art-Künstler eingeladen, die zwölf Kapitel von TWELVE mit einem ihrer Werke zu eröffnen.