Seit über zehn Jahren diskutieren TV-Sender, Mediaagenturen und Werbetreibende heftig über die Art und Weise, wie deutsche TV-Sender ihre Quoten und Preisstrategien berechnen. Diese nutzen dazu die 14 bis 49-Jährigen als Referenzzielgruppe, um die Marktposition der einzelnen Sender zu bestimmen, für Vergleichbarkeit aller Wettbewerber zu sorgen und um ihre Preise festzulegen. Die Kritik an 14/49 lautet: Sie bilde nicht mehr die Zielgruppen mit der höchsten Konsumkraft ab, weil sich die deutsche Gesellschaft stark geändert habe, sie altert und schrumpft. Deshalb tauge 14/49 nicht mehr als Berechnungsbasis für das milliardenschwere deutsche TV-Geschäft.

Nun scheint eine Lösung in Sicht. „Es deutet sich ein Paradigmenwechsel an“, hieß es sogar vollmundig auf den Münchner Medientagen vergangenen Oktober. Die Idee: die Referenzzielgruppe soll, wie die deutsche Gesellschaft, ebenfalls altern und künftig aus den 20 bis 59-jährigen TV-Zusehern bestehen. Auf diese Weise würden die über 49-Jährigen, die eine besonders hohe Kaufkraft aufweisen, endlich die nötige Bedeutung bekommen, argumentieren die Befürworter. Und die 14- bis 20-Jährigen, die ohnehin immer mehr online sind und ihren TV-Konsum reduzieren, spielen dann quasi keine Rolle mehr.

Die Diskussion wird heftig und auch emotional geführt. Immerhin steht viel auf dem Spiel: Es geht um nichts Geringeres als um das Marktgewicht der einzelnen Teilnehmer. Zum Beispiel fürchten Sender, die viele junge Zuseher unter 20 Jahren anziehen – etwa ProSieben –, um ihre aktuelle Marktposition. Jene wiederum, die eine ältere Zielgruppe haben, wären im Vorteil, weil ihr Marktanteil wachsen würde. Insgesamt würde beispielsweise die IP-Gruppe stärker von der neuen Bemessungsgrundlage profitieren. Und Vox würde mit einem um 30 Prozent höheren TKP in die 1. Preisliga der Fernsehsender aufsteigen.

Aber kann das die Lösung sein – einfach die Altersgrenze nach oben zu setzen und so tun, als ob es jugendliche TV-Seher nicht mehr gebe? Mit Verlaub, das erinnert mich an das Verhalten kleiner Kinder, die ihr Gesicht hinter ihren Händen verstecken und dann glauben, damit sei das Problem aus der Welt. Die TV-Sender stehen vor grundsätzlicheren Problemen – und die sind mit einer Änderung der Referenzzielgruppe nicht zu beheben.

Werfen wir einen Blick auf die vorgeschlagene Referenzzielgruppe 20/59 – welche Vorteile und welche Nachteile würde diese mit sich bringen?

Die Argumente der Befürworter:

  1. Die Zielgruppe der 50- bis 59-Jährigen bekäme mehr Gewicht: In dieser finden wir Verbraucher mit der höchsten Kaufkraft sowie viele Marken- und Premiumkäufer. Dieser Vorteil wird von den Befürwortern gerne angeführt, doch aus unserer Sicht ist gerade dieser ein schwacher: Denn Käuferzielgruppen – ob Premiumkäufer oder andere – dürfen in der Mediaplanung keine Frage des Alters sein. Stattdessen muss für jede Marke ein altersunabhängiger Media-Mix erstellt und ausgesteuert werden, der zur Käuferzielgruppe passt.
  2. Man würde sich auf Konsumenten mit niedrigerer Markenwechselbereitschaft fokussieren: Früher gab es in jedem Marktsegment nur ein paar Marken. Nicht zuletzt durch die Globalisierung konkurrieren Unternehmen mit weitaus mehr Marken. In dieser Gemengelage muss sich eine Marke über ihre Inhalte definieren, mit denen sich Verbraucher identifizieren können. Dadurch wuchs vor allem bei jüngeren Zielgruppen die Wechselbereitschaft, der Imprinting-Effekt hat sich geschwächt. Bei älteren Zielgruppen hingegen ist die Wechselbereitschaft niedriger – was wiederum dafür spricht, diese verstärkt in den Fokus zu nehmen.
  3. Die Quoten wären unabhängiger vom Wetter, weil die überdurchschnittlich aktiven Menschen unter 20 Jahren wegfallen.

Die Argumente der Kritiker:

  1. Es wäre ineffizient, die Jugend auszuklammern. Denn das TV ist, was die Sehdauer betrifft, ein älteres Medium. Genau deshalb sollten jedoch die Jüngeren nicht ignoriert, sondern beachtet werden, damit gleichmäßig alle Zuseher erreicht werden. (Das gleiche gilt übrigens für Online-Kampagnen: Auch hier macht es Sinn, sich nicht nur auf die Zielgruppe der Jüngeren zu konzentrieren, sondern auch die Älteren ins Blickfeld zu nehmen.) Zudem sollte man an der Kombination von TV- und Online-Medien arbeiten, um die Kontakte zur jugendlichen Zielgruppe gut auszusteuern. Hierzu gibt es bereits ausgereifte Lösungen, bei Mediaplus nutzen wir zum Beispiel das ScreenPlanning-Modell, mit dem wir den optimalen TV- und Online-Mix für jede einzelne Zielgruppe berechnen können.
  2. Würde man sich ausschließlich auf die ältere Zielgruppe konzentrieren, besteht die Gefahr der „Verklumpung“ in älteren Zielgruppensegmenten. Denn je älter die Zielgruppe, desto mehr sieht sie fern: ein 14-Jähriger sieht pro Tag durchschnittlich 141 Minuten fern, ein 60-69-Jähriger mehr als doppelt so lange mit 306 Minuten. Das Segment der 40- bis 49-Jährigen weist eine noch unterdurchschnittliche Nutzung auf, das Segment der 50- bis 59-Jährigen bereits eine überdurchschnittliche Nutzung. Damit die Älteren also nicht überproportional umworben werden, muss ihre Ansteuerung im Mediaplan begrenzt werden.
  3. Wir als Agentur haben die Sorge, dass der „Euro-Effekt“ einsetzt, das heißt: Dass sich durch die Verschiebung der Altersgrenzen der eine oder andere Preis zu unseren Gunsten ändern könnte – die TV-Sender dies aber nicht weitergeben, sondern versuchen könnten, verschleierte Preiserhöhungen durchzusetzen.

Mein Urteil: Beide Modelle sind nicht die Ideallösung. Würde man diese einführen, würde man die aktuelle, etablierte „Währung“ und alle Strukturen komplett verändern – denn eine solche Neuerung hätte Auswirkungen auf alle relevanten Mediaparameter wie auch auf die TKP-Inflation. Bei den 14 bis 49-Jährigen beträgt sie zwei Prozent pro Jahr, bei den 20 bis 59-Jährigen aber nur 0,5 Prozent. Der Unterschied bei TV-Sendern und Sendungen wäre natürlich viel größer. Womöglich würde dann jeder Sender damit beginnen, seine eigene, für ihn günstige Zielgruppe zu definieren, Eine solche Fragmentierung ist ein unerfreuliches Szenario. Wir brauchen zuverlässige Indikatoren, die für Transparenz sorgen und anhand derer wir Langzeitveränderungen beobachten können.

Aus unserer Sicht gibt es keinerlei Evidenz, warum 20/59 geeigneter sein sollte als 14/49. Deshalb beobachten wir die erhitzte Diskussion der TV-Sender mit großem Interesse. Wir sollten nicht vergessen, dass es keinerlei wissenschaftlichen Ansatz für den Sinn einer altersstrukturierten Referenzzielgruppe gibt – sie wurde 1957 von Leonhard Goldenson, President des US-Senders ABC aus Marketinggründen, eingeführt und 1984 von Helmut Thoma aufgegriffen. (Und in anderen Ländern herrschen sowieso andere Altersspannen: in Italien 13 bis 54, in Frankreich 14 bis 54 und in Österreich 12 bis 49.)

Für uns Mediaagenturen sind die altersfixierten Marktzahlen der TV-Sender längst keine Grundlage mehr, auf der wir Strategien entwickeln – und das würde sich auch nicht ändern, wenn die Altersgrenzen der Referenzzielgruppe verschoben würden. Für die Kampagnenplanung ist die Referenzzielgruppe nicht relevant, sondern die individuelle Zielgruppe einer Kampagne. Daher ist auch das daraus abgeleitete Pricing der TV-Sender ist nicht primär von Bedeutung. Bei Mediaplus gibt es beispielsweise keine einzige Kampagne, die auf 14/49 geplant wird. Und bei anderen Agenturen wird die Vorgehensweise eine ähnliche sein.

Eine Referenzzielgruppe ist ein Durchschnitt – und den können wir im Prinzip nicht gebrauchen, weil wir für jeden Kunden eine individuelle Reichweite und Penetration aufbauen, um zum Beispiel die richtigen Käuferzielgruppen zu treffen. Unsere Arbeit ist vergleichbar mit dem Schießen mit Pfeil und Bogen: Der Werbetreibende zeigt uns das zu treffende Ziel. Wir als Mediaagentur schießen aber nicht geradeaus, sondern berechnen anhand zahlreicher Einflussfaktoren die optimale Flugbahn. Es ist ein sehr individueller Prozess – und für diesen wünschen wir uns von den TV-Sendern detaillierte und transparente – andere – Informationen als Durchschnittszahlen.

Die erhitzte Debatte kann auch nicht darüber hinweg täuschen, dass der TV-Markt vor wichtigen Problemen steht, die mit einer neuen Referenzzielgruppe nicht gelöst werden können. Zum Beispiel:

  1. TV verliert seit mindestens 15 Jahren junge Zuseher (aber: TV-Affine sehen länger fern, auch in der schrumpfenden Zielgruppe der unter 20-jährigen)  So haben wir bei den 14 bis 29-Jährigen seit 1995 eine Steigerung der Sehdauer von sieben Prozent, gleichzeitig aber elf Prozent weniger Nettoreichweite.
  2. Die Privatsender der ersten Generation (RTL; ProSieben und Sat1) kämpfen mit Erosionseffekten in der Access- und Primetime
  3. Die Sender der zweiten Generation gewinnen, stoßen aber an ihre Wachstumsgrenzen (Kabel1, Vox, RTL2).
  4. Die erste TV-Generation fällt auf durch ihre Preisexplosion bei zugleich sinkenden Werbeblockreichweiten in der Langzeitbetrachtung.
  5. Die zweite TV-Generation bepreist ihre Reichweitenerfolge überproportional. Das Preisniveau der Werbeblöcke gleicht sich jene der TV-Sender aus der ersten Generation an.
  6. Es gibt kein Messverfahren für die Parallelnutzung von Medien, deren Relevanz aber zunehmend steigt und einen Medienkonsum von bis zu zehn Stunden am Tag erklärt.

Mehr als Abrechnungskosmetik brauchen wir eine holistische Messung der audiovisuellen Reichweite, damit wir alle Zielgruppen über alle Medien hinweg messen können. Die Marktrelevanz der TV-Sender muss verglichen werden mit jener von Online-Medien und mobilen Services. Dieser Ansatz erfordert natürlich ein starkes Umdenken. Doch auf diese Weise entstünde die transparente Grundlage, die Agenturen und Werbetreibende für ihre Strategien brauchen!

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